Der Ruf nach der Bildung

Der Abend beginnt wortlastig: Ein Vortrag des dänischen Literaturwissenschaftlers Per Ohrgaard über den Bildungsbegriff Goethes steht am Anfang von "Calling Clavigo" der dänischen Gruppe Pro Forma. Parallel zeigen drei Tänzer optisch, wie Menschen versuchen sich einem gesellschaftlichen Raster anzupassen oder es innerhalb enger Grenzen zu verändern. Ein Schwarzlicht-Karomuster wird dazu auf die hintere Bühnenwand projiziert. Die vom Licht getroffenen Körper verformen die Linien durch ihre Bewegungen. So illustrieren sie die Aussage von Ohrgaard: Der Charakter eines Menschen hat durch seine Erziehung eine äußere Randform erhalten, die durch persönliche Bildungsbemühungen zu verändern und zu erweitern ist, jedoch im Kern immer als dieselbe vorgeprägt bleibt.

Die beiden Wissenschaftler Dr. Sibylle Peters und Dr. Martin Schäfer aus Hamburg und Paderborn werden danach auf die Bühne geführt und fangen ohne weitere Vorbereitungen an, über das Thema "Macht und Bildung" in bezug auf die gerade vernommenen Thesen von Ohrgaard zu diskutieren. Der Reiz an dieser Form liegt für den Zuschauer in der Verunsicherung, ob er diese Situation als gespielt oder real zu verstehen hat. Die Diskussion findet nur in der ersten Zeitspanne auf der Bühne statt, danach werden die beiden Diskutanten ins Foyer geführt und sind nur noch über den zugeschalteten Ton zu verfolgen. Die visuellen Sinne des Zuschauers werden nun durch eine Pantomime in Anspruch genommen. Die Konstellation - eine Frau zwischen zwei Männern - wird dargestellt , in getragenen Bewegungen, zu minimalistischen Tönen und mit Lichteffekten unterstützt.

Nach der Pause spitzt sich die Entwicklung um die drei Personen Marie, Claudio und Clavigo aus Goethes Drama "Clavigo" zu - als ein Theaterstück, dem die Worte abhanden gekommen sind. Eine Spiegelwand senkt sich währenddessen auf die drei sprachlosen Akteure und lässt am Schluss die zwei Leichen sichtbar werden, die die dramatischen Ereignisse gefordert haben. Zwei klassische Sängerinnen kommentieren das Geschehen mit ihren Liedern, während sie es zwischen den Spiegelabschnitten als Zaungäste mitverfolgen.

Hotel Pro Forma erkundet bei ihren Projekten stets neue Formen der Bühnenpräsentation. Bei ihrer Deutschlandpremiere von "Calling Clavigo" im Rahmen des Festivals Laokoon wagten sie eine kühne Verknüpfung: Sie versuchten einen inhaltschweren wissenschaftlichen Vortrag, eine wortreiche akademische Diskussion, eindrucksvolle Bilder aus Bewegung und Licht, Pantomime, Operngesang und Pyrotechnik mit einem Drama aus dem klassischen Bildungskanon zu verbinden. Dass die Einzelteile dabei eher in ihrer Gegensätzlichkeit stehen bleiben, die viele Fragen aufwirft, muss die innovative Regisseurin Kirsten Dehlholm als ein wohlkalkuliertes Risiko in Kauf genommen haben. So stellt sie eine Kombination von Bildungs- und Kulturelementen nebeneinander auf die Bühne, die an Bekanntes erinnern soll und dabei Gewohntes in Frage stellen will.

Birgit Schmalmack vom 9.9.03