Fassadenschieberei

In dem unschuldig-weißen Kubus-Haus, das wie eine riesige Puppenstube auf die Bühne gestellt wurde, (Bühne: Katja Haß) gibt es viele wandhohe Türen und Vorhänge, die die Außen- und Innenwände markieren. Ständig werden sie hin- und hergeschoben, auf und zu bewegt. So erlauben sie mal Blicke hinter die Kulissen der feinen Familie, die zum 60. Geburtstag des erfolgreichen und wohlhabenden Vaters (Hans-Christian Rudolph) zusammen gekommen sind, und mal scheinen sie Intimität zu ermöglichen. Doch auch alle sorgsam gehüteten Geheimnisse werden zu diesem "Fest" hinter den Abdeckungen hervorgezerrt. Der älteste Sohn Christian (Norman Hacker) erträgt das Totschweigen der Schuld des vermeintlichen Würdenträgers und seiner treu ergebenen Familienangehörigen nicht mehr. Die Wahrheit muss trotz des festlichen Rahmens und der gewollt guten Stimmung auf den schön gedeckten Tisch. Er beschuldigt seinen Vater des Mordes an seiner Zwillingsschwester: Die jahrelangen Missbrauch der beiden Zwillinge, den die Mutter deckte, hat sie in den Tod getrieben. Die liebende Gattin (Angelika Thomas) untergräbt sogleich - geübt in formvollendeter Vertuschung - seine Glaubwürdigkeit: Ihr Sohn habe schon immer über eine ausufernde Phantasie verfügt; schließlich wäre ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt nötig gewesen.

In der Regie von Stephan Kimmig bringt den Dogma-Film "Das Fest" von Thomas Vinterberg auf die Bühne des Thalia Theaters. Gekonnt seziert er die feinen Verstrickungen der einzelnen Familienmitglieder und legt bloß, dass ein Spinnennetz der Abhängigkeiten auch jenseits von finanziellen Verpflichtungen gefangen nehmen kann. Keiner der in das eng gemaschte Netz Verwobenen ist so frei von eigenen Zielsetzungen und Lebenswünsche, deren Nichterfüllung nicht eingestanden werden kann, dass er die Wahrheit ertragen kann. Nur Christian hat so wenig zu verlieren, dass er sich in die Aufdeckung stürzt.

Auch seine Schwester Helene (Judith Hofmann), die als souveräne junge Frau mit einem dunkelhäutigen Freund auf der Familienparty erscheint, unterstützt ihren Bruder nicht, sondern kittet schnell das Lügengespinst, das er einzureißen versucht. Der jüngere, derb auftretende Bruder Michael (Peter Jordan) hat aufgrund seiner wenig Prestige erzeugenden Lebensführung mit seiner bodenständigen Frau Mette (Anna Steffens) schon genug Schwierigkeiten, von seinen Eltern Anerkennung zu erlangen, dass er gerne die Chance ergreift um sich vor seinem älteren Bruder in Position zu setzen.

Kimmig lässt die pseudo-unterhaltenden Teile immer wieder geschickt ins Leere fallen. Wenn Michael auf den Tisch steigt, um mal für ein wenig Stimmung zu sorgen und ein überaus lustiges Liedchen von einem dummen Mohren zu intonieren, fällt Helene tanzend, lachend und schunkelnd mit ein, um wenig später sich in Übelkeit zu krümmen. Ihr zum Glück nur englisch verstehender Freund (Ernest Allan Hausmann) schaut der Szenerie scheinbar verständnislos zu. Doch ist er hinterher der einzige, der sich intensiv um das plötzliche Verschwinden von Bruder Christian kümmert, der dann nass und schlotternd hereinstolpert; seine liebe Familie hat ihn in den See geworfen, an einen Baumstamm festgebunden.

Am nächsten Morgen sonnen sich die Familienmitglieder in lockerer Sommerkleidung im strahlenden Morgenlicht und in ihrem Triumph über den Vater, den sie in selten Einigkeit aus ihrer trauten Runde herausgeworfen haben. Ein Fundament für einen Neuanfang? Wohl kaum; ihre vermeintliche Harmonie wird nur kurzfristig ihr gegenseitiges Misstrauen und all die zugefügten Verletzungen überdecken können.

Birgit Schmalmack vom 29.09.03