Die sexuellen Neurosen unserer Eltern


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Doras Moral in der Liebe

Doras Moral in der Liebe ist anders. Dadurch fühlt sich ihre Umwelt gestört. Jahrelang hatte die Gesellschaft in Vertretung der Ärzte und ihrer Eltern die geistig behinderte Dora mit Medikamenten pflegeleicht und unauffällig ruhig gestellt. Jetzt will ihre um political correctness und schickes Aussehen bemühte Mutter (Sandra Flubacher mit resistenter, blonder Fönfrisur) ihr Kind mit seinen Gefühlen zurück. Die Pillen werden von der ausgewechselten Ärztin (Felix Knopp) abgesetzt und das Mädchen entdeckt nicht nur ihre töchterlich erwünschten Gefühle sondern auch - plötzlich in die Pubertät entlassen - ihre Sexualität. So fällt sie prompt auf den Erstbesten, einen schmierigen Kosmetikvertreter (ein wundervoll differenziert agierender Thomas Schmauser) herein. Sie will bloß "ficken" und er auch. Bisher musste er dafür Geld hinlegen. So ist er beglückt über diesen glücklichen Fund eines so willigen, unkomplizierten Mädchens. Gern denkt er sich für sie kleine Kinder-Spielchen aus, um sie bei Laune für seine zu halten. Solange jedenfalls bis er merkt, welche Unschuld sich hinter der sexbesessenen Kleinen verbirgt und ihn sein aufkeimendes schlechtes Gewissen zu plagen beginnt. Doch es ist für Dora schon zu spät; sie hat ihr Herz an diesen bemitleidenswerten Außenseiter in rosa Anzug mit gelben Socken verloren und will ein Kind von ihm. Die Eltern sind entsetzt, umso mehr nachdem die Tochter sie selbst bei einem flotten Dreier erwischt. Doch die aufgeklärte Ärztin steht mit zeitgemäßem Rat für Tochter und Eltern zur Seite: mehr Gelassenheit und besser keinen Nachwuchs für Dora sondern eine Totaloperation für ungetrübten Sex.

Lukas Bärfuss hält in seinem preisgekrönten Stück "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" der Doppelmoral der Gesellschaft durch die unreflektiert nachplappernde Dora einen Spiegel vor. Anna Blomeier versteht es die impulsive, überaus wahrheitsliebende, unverfälschte Dora als junge, liebenswerte Frau mit großer Würde zu zeigen. Die Bühnenbildnerin Julia Scholz schuf einen kahlen, weißen Raum, der der Regisseurin Jorinde Dröse viel Platz lässt für die Entwicklung der einzelnen Charaktere. Vor den begrenzenden Milchglaswänden, von denen sich einige als Schwingtüren benutzen lassen, sieht das Leben scheinbar geordnet aus, aber die äußere Welt dahinter bleibt doch für Dora undurchschaubar.

Birgit Schmalmack vom 1.12.03