Unschuld


hamburgtheater vom 13.10.03

Wenn ich ein Tankwart wäre

Der Traum von Frau Zucker, der diabeteskranken Mutter (Victoria Trauttmansdorff) und einstigen Kommunistin, ist es ein Tankwart zu sein. Dann könnte sie sich und ihre nähere Umgebung in einer spätrevolutionären Tat mit einer weggeworfenen Zigarette in die Luft sprengen. Ihre Tochter (Doreen Nixdorf), in deren Hände sie ihre Versorgung nach der Amputation ihres Fußes gelegt hat, wagt zaghaft die Anmerkung, dass auch ihre gemeinsame Einzimmerwohnung in die Luft fliegen würde. Aber da die energiegeladene Mutter sowieso der Überzeugung ist, dass ihre Tochter nichts aus ihren Lebensmöglichkeiten machen würde, hielte sich der Schaden ihrer Meinung nach in Grenzen. Deren armseliges Dahinvegetieren neben ihrem Ehemann Franz (Clemens Dönicke), der durch sie hindurchsieht und lieber seine vorhandenen Gefühle in seinem Beruf als Bestatter bei den Selbstmörder-Leichen auslebt, die niemand betrauert, trotzt der dominanten Mutter keinerlei Achtung ab.

Dies ist nur eine Geschichte von acht, mit der Dea Loher in ihrem neuen Stück "Unschuld" in der Uraufführung am Thalia Theater von Stimmungen in der heutigen Gesellschaft berichtet. Diese Autorin scheint keinen Mangel an Geschichten zu haben. Regisseur Andreas Kriegenburg hat sie intelligent und überaus einfallsreich auf einer lichten, vielseitig einsetzbaren Bühne von Julia Krenz inszeniert. Weiße raumhohe Tücher begrenzen und teilen sie nach Belieben in große oder kleinere Spielräume. Sie lassen sich als Projektionsfläche für Videoeinspielungen nutzen und erlauben in ihrer Farbneutralität die Erzeugung verschiedener Stimmungen durch unterschiedliche Beleuchtung. Gleichzeitig lassen sich auch unter den Stoffen hindurch schnell die verschiedenen sparsam eingesetzten Ausstattungsgegenstände auf die Bühne rollen und so die ineinander verwobenen Geschichten mit schnellen Schnitten erzählen.

Elisio (Christoph Bantzer) und Fadoul (Hans Löw), zwei illegale schwarze Immigranten werden bei ihrer Ankunft in Europa Zeugen des Selbstmordes einer Frau. Seitdem kann Elisio nicht mehr schlafen - zu sehr quält ihn die Frage nach seiner Mitschuld an ihrem Tod, da sie aus Angst vor Entdeckung keinen Rettungsversuch unternahmen. Fadoul verliebt sich in das blinde Mädchen (Claudia Renner), das sich in einer Bar als Nackttänzerin von sehenden Männern angaffen lässt, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Frau Habersatt (Verena Reichhardt) ist so einsam, dass sie sich in ihrer Not einen Amokläufer als Sohn erfindet, um darüber endlich mit Menschen im Kontakt zu kommen. Ein Chor von Autofahrern sieht sich von einem Selbstmörder, der sich von der Autobahnbrücke stürzen will, in ihrer ungehinderten Feierabend-Heimfahrt gestört und ruft ihm schließlich genervt zu: "Spring doch! Los, spring!" Kriegenburg arrangiert ihn wunderbar ironisch als pastellbuntes Ballett der hektischen, gestressten Berufstätigen.

Eine berührende Lebensbilanz liefert die Philosophin Ella. In ihrem Glaskasten-Wohnzimmer haust sie mit ihrem goldschmiedenden, stummen Ehemann Helmut, der ihren philosophischen Ernüchterungen nur eine Mauer aus Schweigen entgegensetzt. Von der einstigen Verliebtheit ist nur noch eine Erinnerung an einen großen Irrtum geblieben. Ihr letztes großes Werk von den "Unzulänglichkeiten der Welt" ist das einzige, das sie nicht verbrannt hat. Ihre einstigen Versuche die Welt zu ergründen kann sie heute nur mit müdem Auflachen und etlichen Flaschen Wein quittieren. Eine grandiose schauspielerische Leistung von Angelika Thomas in strähnigem Haar und offenem Bademantel.

Mit den fahrbaren Scheinwerfern auf der Bühne beleuchten Dea Loher und Andreas Kriegenburg als eingespieltes Team ein Kaleidoskop von Gleichgültigkeiten in der Gesellschaft. Wie durch ein Brennglas betrachten sie in den Geschichten die Beweggründe der Menschen und wagen die Frage nach Schuld und Unschuld zu stellen, deren moralischer Anspruch den Beobachteten schon abhanden gekommen zu scheint. Sie sorgen für dreieinhalb Stunden voller spannender, fantasievoller, intelligenter Einblicke in das moderne Großstadtleben, das sich jenseits von Szenekneipen und Theaterpremieren abspielt und doch ein Stück Realität abbildet.

Birgit Schmalmack vom 13.10.03