Vor Sonnenaufgang


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Brüchige Ideale

In Witzdorf geht es alles andere als witzig zu. Das macht schon die Eingangsszene deutlich. Vor dem Vorhang sitzt Helene in pastellrosa, strickt und macht sich über ihr ödes Leben als Witzdorfer Bauerntochter lustig, das daraus besteht mit anderen Frauen aus dem Dorf zu tratschen und zu handarbeiten. Als sich der Vorhang erheben will, hängt sie sich daran um den Eintritt in ihr Alltagsleben möglichst lange hinaus zu zögern. Verständlich denn es zeigt sich eine trübe Aussicht: Eine düstere Kohlenhalde bestimmt den schwärzlichen Horizont des ehemaligen schlesischen Bauerndorfes.

Hier hat es ihr Schwager Hermann (Peter Jordan) zu Wohlstand gebracht. Ihm gehören nach seiner zielbewussten Heirat ihrer reichen Schwester die Bahnlinie und die Rechte an den Kohlegruben. Doch für seinen Reichtum bezahlt er bitter. Seine Frau ist hochgradig alkoholkrank und hat bereits seinen ersten Sohn dreijährig sterben lassen. Nun ist sie wieder schwanger und soll den ersehnten Nachwuchs gebären. Um dessen Überlebenschancen zu sichern, wünscht sich Hermann seine Schwägerin Helene (Paula Dombrowski) als Ersatzmutter. Doch die Ankunft seines ehemaligen Freundes Albert Loth (Norman Hacker) scheint seine Pläne zu durchkreuzen: Dessen immer noch virulente Ideale beeindrucken die nach Inhalten lechzende Helene so sehr, dass sie ihre Sehnsucht und Fluchtgedanken in eine Liebe zu ihm kanalisiert. Albert ist nicht abgeneigt. Sein eigentliches Vorhaben in Witzdorf Studien über die Lage der Arbeiter anzustellen gerät in den Hintergrund, denn der Traum von einem Familienleben mit einer gesunden schönen Frau scheint für den mittellosen Albert zum Greifen nah. Doch dann erzählt ihm der Dorfarzt, dass Helenes Gene die Wahrscheinlichkeit auf eine gesunde Familie äußerst gering gestalten und er verdrückt sich. Noch vor Sonnenaufgang hat er seine Versprechungen Helene gegenüber vergessen und stiehlt sich mit einer schnöden Nachricht auf einem Schmierblatt davon.

Peter Jordan gibt den pragmatischen Karrieristen Hermann im schimmernden schicken Anzug. Champagner saufend und Kinderspielzeug hortend wartet er sehnsüchtig auf den Moment, in dem er für die Anhäufung seines Reichtums auch mit Glück belohnt werden soll. Norman Hacker als Albert würde so gerne der aufrechte wackere Streiter für gesellschaftliche Ideale sein. Als er Helene begegnet, hofft auch er auf Liebes-Glück, doch knickt sofort ein, als er das Risiko des Scheiterns erkennt. Widerstände lassen seine hoch gehaltenen Ideale schnell brüchig werden. Paula Dombrowski macht ihren Hunger nach Leben, Bildung und Liebe sehr deutlich. Sie scheint die einzig aufrechte Person in einer degenerierter Welt zu sein. Ihr Vater säuft und hurt, ihre Stiefmutter ist primitiv und verschwendungssüchtig, ihr Cousin und zukünftiger Gatte debil und ihre Schwester ist ebenfalls dem Alkohol ergeben. Sie will ihr Leben retten und sieht in Albert eine Chance zu Flucht. Als diese scheitert, trifft sie die für sie einzig logische Konsequenz.

Bösch verlässt sich ganz auf seine Schauspieler. In Einzelszenen zeigen sie vor statischer Kulisse ihr Leid. Die Textvorlage von Gerhard Hauptmann wurde von Bösch und Dramaturg John von Düffel auf sechs Personen zusammen gekürzt. Passend zu ihrem beschränkten Gestaltungsspielraum in ihrem Leben ist die Bewegungsfreiheit auf der Bühne durch die raumgreifenden Kohleberge begrenzt. Durch die weitgehende Ausblendung der gesellschaftlichen Bedingungen, die von Bösch eher behauptet als gezeigt werden, werden die Menschen als Individuen vorgeführt. So scheinen sie ganz alleine für ihren Erfolg oder Misserfolg verantwortlich zu sein. Eine sehr zeitgemäße Sichtweise, die zu heutigen neo-liberalen Trends viel besser passt als Hauptmanns eigentlichen Ansinnen, in seinen Theaterstücken gesellschaftliche Missstände aufzudecken.

Birgit Schmalmack vom 23.2.09