Zivilisierung der Menschheit?

Wie sah ein Kampf um Macht und Moral im 10. Jahrhundert aus und wie läuft er dagegen im modernen 21. Jahrhundert ab? Hat die Zivilisation der Menschheit die erwarteten Fortschritte beschert? Was Heiner Müller in "Hamletmaschine" für die westliche Hemisphäre weitergedacht hat, führt Takeshi Kawamura für Japan fort: Er versetzt Hamlet ins Japan der Jetztzeit. Hamlet begegnet bei Kawamura einer modernen Großstadtwelt, die durch Gewalttätigkeit, Arbeitslosigkeit, Familienzerrüttung, Kriminalität, Dekadenz und Perversionen geprägt ist. In zehn Bildern konfrontiert er einen Dieb, der sich erträumt einmal in die Rolle Hamlets schlüpfen zu dürfen, mit der japanischen Realität der fortschreitenden Globalisierung, des um sich greifenden Kapitalismus, der Verelendung von großen Bevölkerungsgruppen und schwindender Mitmenschlichkeit. Er zeichnet eine Moderne, die nur Erschreckendes für die Menschen bereit hält und sie ihrer Liebesfähigkeit und Würde beraubt.

Kawamura bedient sich dazu der Kombination vieler verschiedener Ausdrucksmittel: Drei Tänzerinnen versinnbildlichen zwischen den Szenen durch ihre Bewegungen die Unwirtlichkeit der Welt. Die neun weiteren Schauspieler schlüpfen in immer wieder neue Rollen des Hamletdramas bzw. des heutigen Japans. Bestimmendes Element der Bühnengestaltung sind verschiebbare Gitter, die eindrucksvoll sowohl Gefängnisse, Verhörsituationen, Irrenanstalten wie das Eingesperrtsein in die absurde Wirklichkeit zeigen können. Videoeinspielungen auf der großen rückwärtigen Leinwand zeigen Bilder von Großstädten, Landleben und erzählen die Biographie des homosexuellen Prinzen B, der eine der drei Verkörperungen von Hamlet darstellt. Diese Lebensgeschichte wurde für das Gastspiel auf Laokoon deutsch synchronisiert. Für die weiteren Texte steht meist nur eine Kurzzusammenfassung des Gesagten zur Verfügung, die den Handlungsverlauf in groben Zügen wiedergibt. So kann man den Originaltext nur durch einige wörtlich übertragene Passagen in seiner ausgefeilten Eloquenz erahnen und darf sich als deutschsprachiger Zuschauer meist auf die starke Ausdruckskraft der hervorragenden Schauspieler konzentrieren.

Die Aufführung hinterlässt in seiner technischen, choreographischen und schauspielerischen Perfektion eine Überfülle an Eindrücken und Gedanken. Wer noch an eine fortschreitende Entwicklung der Menschheit glaubte, bekam durch die Aufführung auf Kampnagel einige Gesichtspunkte geliefert, die den Zweifel daran nähren könnten.

Birgit Schmalmack vom 14.09.03

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