Polyzentral 2007


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Erdverbunden

Nicht schwebend sondern erdverbunden ist der indische Tanz von Aditi. Alle Energie kommt aus dem Boden. Sprünge sind selten. Die Füße bleiben in Erdnähe. Ihre Erdung ist spür- und hörbar. Der Rhythmus kommt nicht nur von der Musik, sondern von den trommelnden Füßen der Tänzer, ihren schnellen Drehungen, den Sprechgesängen und den rasanten Handbewegungen.

Bis ins Letzte ausgefeilt zeigt die Tänzerin Aditi Mangaldas mit ihrer Company, wie sie die traditionelle Form des Kathak für sich modernisiert und bereichert hat. Seit sie fünf war, ging sie bei zwei Meistern in die Schule, die ihr nicht nur das Tanzen beibrachten sondern auch das Leben lehrten. Dort erst mit ihrer eigenen Company könne die Künstlerin nun das ausdrücken, was sie als zeitgenössischer Mensch fühle.

In ihrem Heimatland brachte ihr das nicht nur Ruhm ein. Nun ist sie im Rahmen von "Polyzentral" nach Hamburg gekommen. Trotz der sommerlichen Temperaturen war die K2 auf Kampnagel bestens gefüllt. Viele waren gekommen, um dem Nimbus des indischen Tanzes substanziell näher zu kommen. Aditi Mangaldas und ihre Tänzer erfüllten ihre Erwartungen voll. Begeisterter Applaus verleitete die Truppe sogar zu einer kleinen Zugabe.

Birgit Schmalmack vom 27.4.07

Polyzentral 2006:

Polyzentral bot dieses Jahr vielfältige Eindrücke aus dem geographischen Gebiet von der Türkei bis zur Wüste Gobi. Das usbekische Theatre Eski Masjid lieferte einen farbenprächtigen Genuss für die Sinne. Bunte Gewänder; Musik, Tanz, Gesang und eine Geschichte tiefgreifender Gefühle wurden auf einem Teppich aus hellen, sandfarbenen Stoff ausgebreitet. Auch wer die Geschichte nicht verstand, konnte sich ohne Schwierigkeiten an dem abwechselungsreichen Treiben erfreuen. Regisseur Khodajakuly zeichnet neben dieser auch für die Produktion "King Lear" aus Turkmenistan verantwortlich und bewies damit seine Vielseitigkeit: Hier stand ein Mann, Anna Mele, ganz alleine auf der Bühne und erzählte die Geschichte des in den Wahnsinn getriebenen Königs. Trotz seines ausdruckstarken, symbolreichen Spiels hätte hier das Verständnis des Textes den Genuss noch weiter steigern können. So blieb die Freude an der Ideenvielfalt von Regie und Darsteller.

Das türkische Theater 5. Sokak Tiyatrosu bescherte einen äußerst beeindruckenden Abend mit dem Titel "Ashura". Sie feierten ein wunderbar komponiertes Fest der Trauer und der Versöhnung. In den verschiedenen Sprachen, die in der Türkei gesprochen werden, sangen sie Lieder, die von Liebe, Vertreibung, Verlust und Freude handeln. Wie Wanderer zwischen den Welten laufen sie in schwarzen Gewändern durch das Bühnenviereck. Barfuss sind sie auf der Suche nach einem Platz zum Leben, Musizieren und Beisammensein. Doch immer müssen sie weiter und nehmen nur ihren Stuhl und ihr Instrument mit. Ihre Inszenierung zeugt von beindruckend hoher Qualität. Die Botschaft des Abends wird deutlich: Immer weiter musste die kulturelle Vielfalt der Türkei verstummen. Die Einsprachendoktrin Atatürks forderte ihren Tribut.

Das Projekt "Tanz der Derwische" war bemerkenswert: Im ersten Teil tanzt der Mevlevi-Orden den traditionell überlieferten Tanz der Derwische: eine Stunde getanztes Gebet nach einem streng vorgeschriebenen Ritual. Danach zeigt Ziya Azazi in seinem "Derwish in progress", wozu er die Technik des Drehtanzes weiter entwickelte. Was vorher Ruhe, Gleichförmigkeit und Versunkenheit war, wurde nun zu Schnelligkeit, Abwechselung, Akrobatik, Tempo und Kreativität. Der Tänzer beeindruckt mit furiosem Schwung, der die Zuschauer erst zu atemlosem Staunen und dann zu begeistertem Applaus hinriss.

Das Künstlerkollektiv "Roter Traktor" zeigte am Schluss des Festivals eine Performance aus sehr unterschiedlichen Elementen. Um eine Jurte versammelte sich zunächst das Publikum. Die Künstlerin Almagul Menlibaeva zeigte dann vier Kurfilme, die in hochverdichteter Form von der Rolle der Frau in Kasachstan zwischen Moderne, Religion und Tradition erzählte. Wunderschöne, symbolträchtige Bilder schuf sie mit den weiblichen Darstellerinnen, die ihren nackten Körper in immer wieder neue Tücher schlangen, die ihnen Pracht und Würde brachten, aber auch Bewegungsmöglichkeit, Identität und Natürlichkeit raubten. Danach inszenierte der Leiter des Kollektivs und sein Assistent ein schamanisches Ritual, das sie künstlerisch verfremdeten. Schließlich wurde gemeinsam gegessen und getrunken.

Die Festivalgestalter hatben dieses Jahr ein besonders anspruchsvolles Programm zusammengestellt. Besonders die Produktion aus der Türkei und dem Iran zeugten von beeindruckend künstlerischer Qualität. Die exzellenten Übersetzungen trugen bei diesen Produktionen dazu bei, dass das Verständnis auch die inhaltliche Ebene mit einschließen konnte.

Birgit Schmalmack vom 27.3.06

Freiheit und Beschränkung

Eine Frau steht im Halbdunkel. Sie schüttelt sich, erst langsam dann immer stärker. Aus ihrem eng anliegenden Kostüm ragt etwas heraus, das hin und herschlackert. Das Licht wird heller und lässt erkennen um was es sich handelt: Viele kleine Babypuppen hängen an der Frau.

Eine Frau steht im Kreis von lauter Männern. Sie kicken mit einem Fußball. Die Frau läuft von einem zum anderen und will mitspielen. Doch die Männer erlauben ihr keinen Ballkontakt. Wenn sie kommt, schießen sie den Ball gerade zum nächsten Mann.

Das sind nur zwei Szenen von "Home Sweet Home" der türkischen Regisseurin Emre Kyuncuoglu. Sie stellt in ihrem Stück die Frage nach Identität. Ihr Fokus liegt dabei ganz klar auf der Rolle der Frau, die ihren Platz zwischen der Tradition und der Moderne definieren muss. Kyuncuoglu schuf eine beeindruckende Inszenierung, die sich sehr kritische Fragen zu gesellschaftlichen Normen erlaubt. Eine Inszenierung die sich eine Offenheit gestattet, die für den iranischen Regisseur Amir Reza Koohestanis in "Amid the Clouds" nicht in Frage käme.

Die iranische Zensur legt ihm strenge Regeln auf, die er befolgen muss, wenn er seine Stücke auf einer Bühne sehen möchte. So schuf er eine sehr strenge, einfache, schlichte Form der Darstellung, die ihm erlaubt mit sehr sparsamen Mitteln Geschichten zu erzählen, die mit ihren Zwischentönen für gezielte Irritationen sorgen. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, sind auf der Flucht nach Europa. Der Mann, weil er seine gesamte Familie verloren hat, und die Frau, weil sie unehelich schwanger geworden ist. Sie gehen ein Stück des Weges gemeinsam. Im Flüchtlingslager in Calais verliert die Frau auf tragische Weise ihr Baby. Rot ist das Wasser des Ärmelkanals von ihrer Fehlgeburt gefärbt. In ihrer Trauer wagt sie es dem Mann ihre unerhörte Bitte vorzutragen: Sie möchte von ihm ein neues Kind, um etwas Trost zu finden. Da sich auf einer Bühne Mann und Frau nicht berühren dürfen, hat sich der Regisseur eine interessante Konstruktion einfallen lassen: Auf Holzpaletten sind die beiden Menschen übereinander gestapelt und können sich durch die Ritzen der Bretter zaghaft die Finger entgegen strecken.

Doch nicht nur in dieser Szene sorgt Koohestani für bewegende Bilder. Drei Wasserbassins dienen den beiden Schauspielern dazu, die mystischen Komponenten ihres leisen Vortrags auszuloten. In voller Montur tauchen sie in das Wasser hinein und schwimmen in dem Urelement allen Seins, streng voneinander getrennt, jeder in seinem eigenen Becken.

Birgit Schmalmack vom 16.3.06