Drei Schwestern


www.hamburgtheater.de

Man muss doch leben

Entbunden von der Pflicht selbst ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen, leben die "Drei Schwestern" auf ihrem Landsitz und haben Zeit mit ihren Verwandten und Freunden über den Sinn des Lebens nachzugrübeln. Da sie sich nicht ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen können in Moskau zu leben, setzen sie notgedrungen auf zweitbeste Lösungen wie Heiraten oder Arbeiten. Beide stellen sich in ihrer Umsetzung als wenig erfüllend heraus. Mascha (Myriam Schröder) hat die erste Variante mit der Heirat des Gymnasiallehrers Kulygin (Jörg Ratjen) ausprobiert, Olga (Wiebke Puls) als Lehrerin am selben Gymnasium die zweite. Beide sind gleichermaßen ernüchtert. Die jüngste, schöne Schwester Irina (Maja Schöne) versucht sich zunächst beim Telegrafenamt, um wenig später doch die unerwünschte Heirat mit dem Baron Tusenbach (Samuel Weiss) als unvermeidlich ins Auge zu fassen.

Jan Bosse inszeniert die wohlbekannte und immer wieder erzählte Geschichte von Tschechow (hier in der Neuübertragung von Alexander Nitzberg) in entstaubter, unterhaltsamer Frische. Er findet Ansätze, die das Geschehen aus den Birkenwäldern Russlands mit ihren Sumpfdotterblumen in die städtischen Moderne holen. Stéphane Laimé als Bühnenbildner unterstützt diese Sichtweise durch einen Metallcontainer inmitten von Betongehwegplatten, die den nicht mehr ganz so idyllischen Lebensraum der Landschwestern pflastern. Im Laufe des Stücks fahren immer weitere Container aus dem Bühnenboden hoch und lassen ein Hochhaus entstehen, das so die verschiedenen Entwicklungsschichten ihres Lebens wie Umzugskartons sichtbar übereinander stapelt.

Die drei Schwestern sind hervorragend besetzt. Wiebke Puls ist als die Älteste eine zupackende, dynamische, verantwortungsvolle, leicht verbitterte Lehrerin, die die Hoffnung auf bessere Zeiten für sich selbst schon abgeschrieben hat und nun wenigstens für Irinas Zukunft sorgen möchte. Maja Schöne ist die liebenswerte, emotionale Kleine, in deren Gefühlshaushalt von himmelhoch-jauchzend bis zu-Tode-betrübt alles vorkommt. Myriam Schröder überzeugt als lebens -und liebeshungrige, lasziv stöckelnde, blonde Frau, die sich - enttäuscht von ihrem zunächst bewunderten Mann - in den Moskauer Werschinin (Alexander Simon) verliebt. Als vierte Frau im Haus spielt zunehmend die angeheiratete Frau des Bruders Andrej (Tilo Nest) Natascha (Christiane von Poelnitz) eine wichtige Rolle. Vom schüchternen Landmädchen entwickelt sie sich zur dominanten Hausherrin, die den drei Schwestern ihre Plätze zuweist. Am Schluss lässt Bosse sie durch immer weitere Schichten von Kleidung vollgestopft und unbeweglich werden. Vorher stolzierte sie noch in Goldoverall zu ihren Rendevous mit Vertretern der Dorfprominenz über die Bühne.

Am Schluss der fast dreieinhalbstündigen Aufführung stehen die drei Schwestern am Bühnenrand und beschwören sich gegenseitig: "Es fehlt nicht viel!" Dabei halten sie sich verkrampft an den Händen und sind bemüht ihre Mundwinkel optimistisch nach oben zu ziehen. Doch dass sich die Leere ihres bisherigen Lebens in Zukunft mit Spannendem, Interessantem, Lohnendem füllen werde - diese Hoffnung haben sie längst durch eine pragmatischere Haltung ersetzen müssen. "Man muss doch leben!" ist nun zu einem "Man muss einfach weiterleben!" geworden. Bosse hat es wie schon in "Clavigo" und dem "Menschenfeind" geschafft, einen Bühnenklassiker mit Leichtigkeit zu aktualisieren. So vermag Tschechows Drama das ideologie- und illusionslose Lebensgefühl der Jetztzeit bestens zu illustrieren.

Birgit Schmalmack vom 14.9.03


Spiegel vom 13.9.03

SAISONSTART IM DEUTSCHEN SCHAUSPIELHAUS

"Drei Schwestern" im Container-Design

mehr