Kritiken zu "Shen Wei Dance Arts" von
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Analyse und Synthese

Selten hat ein Choreograph sich so in die Musik eingefühlt wie Shin Wei in seinem Stück "Rite of Spring". Wie an unsichtbaren Fäden wurden die Tänzer von jeder Note von Strawinsky Klavierkonzert "Sacre de Printemps" zu einer Bewegung geführt. Jeder Ton bewegte mindestens eine von ihnen aus dem kreidebepuderter schwarzen Spielfeld in der K1 auf Kampnagel. So präzise wie hier dem Musikstück nachgespürt wurde, so präzise wurden auch die einzelnen Schritte und Bewegungen analysiert. Jede Bewegung wurde in ihre nötigen Muskelkontraktionen zerlegt. So wurde z.B. nicht einfach der Arm gehoben, sondern erst die Handfläche gewendet, dann der Unter- und Oberarm und zuletzt die Schulter gedreht, um dann in die Höhe gebracht zu werden.

Das zweite Stück des Abends "Folding" war danach eine Überraschung und zeigte die Vielfalt des Schaffens von Shin Wei. Widmete sich das erste Stück der Analyse, so stand das zweite eher unter dem Motto der Synthese. Zu magischen Klängen von John Taverner und buddhistischen Gesängen entspann der Choreograph eine mystische Atmosphäre. Vor einer japanischen Tuschzeichnung von Fischen schwammen die Tänzer in einem Meer von Klängen. Wie Meerjungfrauen (und hier auch - männern) bewegten sie sich langsam schreitend, schiebend, gleitend. Wie ein Fischschwarm beeinflussten sie sich gegenseitig. Eine lange Schleppe zogen sie statt des Fischschwanzes hinter sich her. Shin Wei ist hier eher ein Maler; er malt wunderschöne bewegte Bilder, die noch lange in Erinnerung bleiben.

Die Performance des LOT Teatro aus Peru beschloss den Abend. Im anschließenden Publikumsgespräch sagte Lucia De Maria, eine der drei Schauspieler: Wir sind alle in Peru Sonderlinge, genau wie Birger Sellin. Dieser Selin ist ein Autist, der mit Hilfe des Computers in einem Buch seine Gefühle der Einsamkeit und Absonderung Ausdruck verleihen konnte. Dieser Text ist die Grundlage der Performance. Für Regisseur Carlos Cueva war der Text ein hervorragendes Material für sein Körpertheater. Zu ihm konnte er sich Bilder und Geschichten einfallen lassen, die er mit seiner jungen Truppe in der fensterlosen Vorhalle auf Kampnagel umsetzen konnte.

So stellt er einen riesengroßer Wasserspender in die alten Fabrikhalle. Er besitzt einen komfortablen Hahn zur Wasserentnahme. Doch der Mann, der ihn betrachtet, nimmt einfach den Glaskolben mit dem Wasser in die Arme und reißt ihn aus seiner Halterung. Das ganze kostbare Wasser fliest auf den Boden. Ein eingängiges Bild für den Autisten Birger Sellin, der versuchte die Regeln der Gesellschaft zu verstehen. Ihn dürstete nach Antworten. Doch kam er ihnen näher, so nahe wie dem erfrischenden Wasser, dann fehlten ihm der rechte Zugang, um in seinen Besitz zu kommen. Alles zerrinnt. Für Carlos Cueva ist Selins Geschichte ein echte Tragödie. Eine Geschichte ohne einen Morgen, ohne eine Hoffnung auf Lösung.

Birgit Schmalmack vom 21.8.05