JOE


Lemminge des Alltags

Eine Ansammlung von Menschen in schlammfarbenen Staubmänteln, Hüten und schwarzen Stiefeln wird auf der düsteren Bühne sichtbar. Wie auf ein geheimes Kommando hin fangen sie an mit schlurfenden Schritten über die Bühne zu gehen. Nur die Geräusche ihrer Stiefel sind zu hören. Die Köpfe tief geduckt, die Kragen hochgezogen und die Hände in den Taschen vergraben, bilden sie eine anonyme Masse. Selbst ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, ist nicht zu erkennen. Sobald einer seinen Schritt verlangsamt oder gar wagt stehen zu bleiben, fällt er aus der schützende Masse heraus. Schnell reiht er sich ein, wird unauffällig und funktioniert wieder. Am hinteren Bühnenrand steigt der Fußboden bis zu einer beleuchteten Fensterreihe an. Erklimmen die Menschen diese Rampe und streben dem Licht zu, rutschen sie wie Sysiphus stets wieder herunter. Der Aufstieg gelingt nur für Sekunden. Auch das krampfhafte Festklammern in Embryohaltung verlängert die Haltezeit nur unwesentlich.

Die komplizierte Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft hat der inzwischen verstorbene Tänzer und Choreograph Jean-Pierre Perreault in seinem 1984 geschaffenen Kultstück "Joe" (die englische Bezeichnung eines Otto Normalverbrauchers) auf beeindruckende Weise bebildert. Viele Assoziationen des öden gleichförmigen Alltags in der Großstadtanonymität werden mit seinem Tanzstück ohne Musik geweckt, das nun endlich auch in Deutschland auf Kampnagel zu sehen ist.

Einer kann die Uniformität und das Versinken in der anonymen Masse nicht mehr ertragen: Er streift seinen Mantel ab und wagt schwungvolle Tanzbewegungen. Seine hoffnungsvollen Blicke in Richtung der unbeirrt weiterschreitenden Menge werden enttäuscht. Sogar als er sich wagemutig vor die Menge wirft, geht sie unbeirrt über ihn hinweg.

Birgit Schmalmack vom 8.10.04

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