Familienträume und -wirklichkeiten

Ich bin Petra, meistens Mutter, manchmal Haushälterin und Frau, selten ...Petra, beschreibt das weibliche Familienoberhaupt ihren Platz in ihrem Seevetaler Haus mit den vier Kindern und einem Hund. Der Vater Bertold sieht sich dagegen vordringlich als Mann. Er weiß auch ziemlich genau, was er unter männlich versteht: Bart, Stärke, keine Schwächen zeigen, Halt bieten, Versorger sein. Sohnemann Marko legt mit seinen gekonnten Karategriffen alle übrigen Familienmitglieder gerne aufs Kreuz und fühlt sich cool mit seiner verspiegelten Sonnenbrille. Der kleine Nils rast auf seinem Roller übers Laminat und die große Schwester ist eine aufmerksame Gesprächspartnerin ihrer Mutter.

Die Regisseurinnen Nicola Unger und Regina Wenig wollten mit ihrem Dokumentationstheater der Wahrheit des Systems Familie auf die Spur kommen. Das Prinzip der Unschärfe hat sie dabei eingeholt, wie sie gerne zugeben. Je dichter man der Wahrheit kommen möchte, desto näher ist man der Erkenntnis, dass man sie nie ganz greifen kann. Nur einige Stückchen der Wahrheit kann man erhaschen, die eventuell auch nur für den Moment gültig sind.

Spürten Unger und Wenig im ersten Teil ihrer Familien-Doku im Jahre 1999 noch dem ganz alltäglichen Familienalltag nach, so schälen sie bei ihrem erneuten Besuch 2005 hinter der heilen, wohlsituierten Fassade Schwierigkeiten heraus, die berühren. Hier bewährt sich ihr unaufdringliches Konzept, das Tonbandaufzeichnungen, Videoausschnitte und durch die beiden Profis wiedergegebene, gewissermaßen neutralisierte Zitate kombiniert: Es bewahrt den respektvollen Abstand zu den leibhaften Personen, die sich ungeschützt dem Publikum auf der intimen Kampnagel-Probebühne stellen. So kann von der Bulimie und den Selbstverletzungen der Tochter Anna erzählt und von den Trennungsabsichten der Eltern gesprochen werden.

Anna sitzt derweil im Publikum und zeichnet in ihr dickes schwarzes Skizzenbuch. Anna meldet sich nur in Zitaten und ihren Bildern zu Wort, doch ist sie oft Thema in "Samtmanns Familienabend". Stört sie doch die Traumvorstellungen, die für Familien gerne bereit gehalten werden. Unger und Wenig erlauben den Blick hinter die schöne Fassade auf Probleme, die nicht ins erträumte Bild passen.

Der heutige Gast der Familie, der Chaosforscher Dr. Rössler, erläutert die Unschärfe unter wissenschaftlichem Aspekt. Er liefert auch mit sanfter Stimme das Motto des Abends, das passender Weise vom Physiker Nils Bohr stammt: Die Menschen sind in ihrem Leben gleichzeitig Zuschauer und Akteure.

Diesem Motto verhalf das anschließende Publikumsgespräch am zweiten Aufführungsabend zur dritten Dimension: Nun nahmen die Zuschauer mit am Wohnzimmertisch Platz und philosophierten mit der Familie, der Regie und dem Forscher über Glück, Träume, Theater und Gesellschaft. Ein rundum gelungenes, anregendes Theaterexperiment.

Birgit Schmalmack vom 22.2.05

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