Iwanow


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Herabfallende Fliegen

Mascha (Susanne Wolff) kauert auf dem Metallgitter des Ehebettes ihrer Eltern. Die Beine übereinander geschlagen und unter die Sprossen geklemmt, findet sie Halt. Sie fürchtet ansonsten vor Langeweile herunterzufallen, wie sie das schon für die Fliegen prognostizierte, die ihren Eltern beim Leben zugucken müssen. Ihr Vater ist zwar ein gutherziger Mensch, doch machtlos gegenüber seiner reichen Ehefrau, die streng über die Finanzen wacht. Sie (Sandra Flubacher) bricht unter der Last ihres Geizes ständig zusammen. Flink wird sie nur, wenn eine neue Geldeinnahmequelle oder eine Einsparungsmöglichkeit winkt. So, als sie die Kerzen für Maschas Geburtstagsfeier flugs löscht und für nächstes Jahr aufheben will, als die Gäste in den Garten gegangen sind. Jörg Pose lotet die vielschichtigen Charakterzüge von Maschas Vater mit Bravour aus. Der bekennende Alkoholiker und liebevolle Vater verleiht seiner hilfslosen Liebe zu seiner Tochter mit seinem ganzen Körper, der sich verzweifelt um sie herumwindet, Ausdruck. Jörg Pose spielt dies mit jedem Satz, mit jeder Geste mit jeder Bewegung, die er von einem Moment zum nächsten bricht und damit selbst ständig in Frage stellt.

Maschas einzige Hoffnung auf Veränderung ist der tägliche Besucher, der mittellose Gutsbesitzer Iwanow (Peter Kurth). Zu ihrem Lebensziel ist es geworden, in Ermangelung von Alternativen, diesen gebrochenen, in der Depression versunkenen Mann zu erretten. Doch er ist verheiratet, mit der Jüdin Sarah, die alles für ihren Mann aufgab, jetzt an Schwindsucht leidet und sterben wird. Die Last dieser großen Verantwortung drückt Iwanow nieder. Dieser Mann hat sich überhoben an der Vielzahl seiner früheren ehrgeizigen Projekte. Nach ersten Misserfolgen verlor er  Energie und Schaffenskraft. Gleichzeitig verschwand seine Liebe zu seiner Frau. Dafür meldete sich sein schlechtes Gewissen. Selbsthass machte sich breit. Iwanows zu klein gewordenes Blümchenhemd und die bunten, karierten Jacketts zeugen von der früheren Unternehmungslust. Der grandiose Körperdarsteller Peter Kurth darf seiner depressiven Haltung leider hauptsächlich mit Worten Ausdruck verleihen. Die Trägheit und das Unverständnis für seine Lage symbolisieren lediglich seine hängenden Arme und seine hingegossene, beleibte Gestalt auf seinem Sofa. Dagegen haben die anderen Schauspieler die Gelegenheit mit differenziertem Körperspiel zu brillieren.

Einmal allerdings vermag die Jugendlichkeit von Mascha diesen Deprimierten für kurze Momente seiner Lethargie zu entreißen. Dann wagt er sogar mit ihr ein Tänzchen, einen tiefer gelegten Slow-Swing. Ein beeindruckendes Bild hat die Regisseurin Alize Zandwijk hier für die Schwermütigkeit gefunden, die selbst bei erfreulichen Anlässen auf den Boden drückt.

Die Bühne (Thomas Rupert) vereinigt Iwanows Zimmer und das der Lebedjews. Egal wo die Bewohner sich befinden, überall die gleiche angegilbte Rankentapete und die gleiche umlaufende schmale Holztheke, um sich beim alltäglichen Einerlei wenigstens irgendwo festhalten zu können. Die Natur existiert nur noch als beleuchtetes Terrarium in der Wand bzw. als Wandausschnitt, der mühsam erklettert werden will.

Rührend ist der Anblick Iwanows, als er in einem kreischend blauen Blümchenanzug, der blühendes Leben vorgaukelt, zu seinem geplanten Heiratstermin mit Mascha nach dem Tod seiner ersten Frau auf die Bühne kommt. Als er Mascha nicht durch Argumente davon überzeugen kann von der Hochzeit abzusehen, beweist er zum ersten Mal wieder Entschlusskraft: Er beendet sein Leben. Mascha verliert ihre einzige Aufgabe und kehrt auf ihre Metallstange zurück.

Birgit Schmalmack vom 6.10.04

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