Plastilin


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Schubladendenken

Quadratisch, praktisch, gut - diesen Gedanken verfolgten nicht nur sozialistische Staaten bei der Wohnraumschaffung für ihre Bürger. Auch in Mümmelsmannsberg oder Steilshoop sind solche Ideen für die menschlichen Unterbringung zu bewundern. Aus solchen grauen Betonkästen ist das Bühnenbild (Regina Lorenz) von "Plastilin" im Malersaal zusammengesetzt. Treppenförmig gruppieren sie sich um einen Sandplatz, der als Spiel- und Balzplatz zur Verfügung steht. Anders in den Hochhaussiedlungen dienen als Fenster unauffällige Luken, die ähnlich wie Kanaldeckel schnell den Abschaum der Gesellschaft unsichtbar werden lassen können. Hier verschwinden auch die bunt zusammengewürfelten Figuren, die der junge russische Dramatiker Wassilij Sigarew für seinen Einblick in eine russische Großstadtszenerie genommen hat, und kriechen wenig später wieder hervor.

Maxim (Patrick Güldenberg) versucht nach Kräften beim gesellschaftlichen Durchhaltespiel mitzuhalten, doch er ist zum Fußabstreifer für alle auserkoren worden und hatte keine Chance, da er keine einflussreichen Fürsprecher vorweisen kann. Seine Oma ist die einzige, die je für ihn Verantwortung übernommen hat, und um die liebe, aber gebrechliche Frau muss er sich jetzt eher kümmern als sie sich um ihm. So ist er den aggressiven Attacken der Anderen hilflos ausgesetzt: der Schulsuspendierung durch die intrigante und korrupte Lehrerin (Anne Weber), dem Benutzwerden durch seinen Schein-Freund Ljoscha (Markus Reymann), den falschen Verführungskünsten von Natascha (Maja Schöne) und schließlich der sexuellen Gewalt von ihren Freunden (der Schwule Thomas Küngel und der Prolet Nikolas Rosat).

Das Stück endet unter der Regie des 25jährigen Florian Fiedler wie es begonnen hat: Maxims Leiche wird über den Sandplatz geschleift und ist nur wegen seiner neuen, teuren Turnschuhe interessant. Einzig die Straßenmusikerin Tanja (Elisabeth Müller), mit der ihn die Anfänge einer zarten Jugendliebe verbanden, zeigt Regung für den Menschen Maxim.

Fiedler bringt mit Hilfe der Kostüme (Selina Peyer) spielerisch und gekonnt überzeichnete Klischee-Gestalten auf die Bühne. Tanja zeigt sich zum Beispiel in grellbunten Synthetik-Sommerkleid mit silbernen Plastiksandalen und Pelzmütze. Der schwule Macho trägt an jedem Finger einen dicken Goldklotz und dazu ein knallrosa Hemd. Die Lehrerin, ganz in dezenten, figurbetontem Braun, hat einen lila Peitschengürtel um die Taille geschlungen, mit dem sie stets wedelt. Das ist knapp am derzeitigen Sixties-Trend und an einer Vorstellung von russischen Billig-Schick vorbei. Kaum verdeckt von ihrer Kleidung tragen alle Zeichen von erlittener Gewalt - die Frauen Blutergüsse und die Männer blutverkrustete Wunden. Zwischen den einzelnen Szenen lässt er diese verletzten und verletzenden Loser immer wieder russisches (oder auch amerikanisches) Liedgut intonieren, das ihr Lebensdrama mit einer lieblichen Schmuse-Soße versüßen soll. So umgeht Fiedler geschickt jede sentimentale Sozial-Realismus-Falle und lässt anklingen, dass dieser Kampf um die besten Schubladen-Plätze in einer auf Konformität bedachten Gesellschaft sich nicht nur in Russland abspielen kann.

Birgit Schmalmack vom 12.10.02