Zögerliche Loslösung

Der einst geniale und dann verrückt gewordene Mathematikprofessor Robert (Peter Franke) ist gestorben. Seine ebenfalls höchst intelligente Tochter Catherine (Natalia Wörner) hat ihn während der letzten fünf Jahre seiner Geisteskrankheit gepflegt. Was fühlt und macht diese junge Frau, die die entscheidenden Jahre, die alle ihr Freunde zur Abnabelung vom Elternhaus und Selbstorientierung genutzt haben, jetzt nach dem Wegfall ihrer bisherigen Full-Time-Aufgabe? Sie steht so verloren, deprimiert, ziellos und einsam da, wie Natalia Wörner in "Proof" von David Ackbourne.

Der ehemalige Doktorand ihres Vaters, Harold (Dirk Ossig), ist immer noch so fasziniert von dessen bahnbrechenden Forschungsergebnissen, dass er alle seinen zahlreichen Schreibereien für durchsehenswert hält. Er ist zunächst der Einzige, den Catherine mit unverhohlener Ironie davon überzeugen muss, dass sie lieber alleine auf dem Sofa liegen bleiben möchte. Zaghaft und verlegen nähert er sich ihr immer wieder, bis sie sich gerührt auf ihn einlässt. Später muss sie sich auch noch mit ihrer Schwester Claire befassen, die in ihrer zupackenden Art für alles eine sofortige Lösung parat hat und die Gelegenheit sieht, auch Catherines Leben nach ihren Vorstellung durchzustylen. Als diese auf Aufzeichnungen in dem Arbeitszimmer ihres Vaters hinweist und sie als ihre eigenen darstellt, glaubt ihr keiner von beiden. Gekränkt zieht sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück.

Auf der spakigen, heruntergekommenen Beton-Veranda (Bühne: Götz Loepelmann) spinnen die vier Schauspieler ein Beziehungsgeflecht, dass sich zwar kaum mit Primzahlen und Binomischen Formeln befasst, aber dafür mit interessanten Fragen der Selbstaufgabe für einen Anderen, der verschobenen Selbstfindung und des daraus resultierenden Schuld des Nehmenden. Dass diese zwei ein halb Stunden trotz immer gleicher Bühne, der nur vier agierenden Personen und wenig überraschenden Wendungen spannend werden, ist zu großen Teilen der Präsenz der Hauptdarstellerin zu verdanken. Sie wirkt in ihrer Schnodderigkeit ebenso glaubhaft wie in ihrer Liebebedürftigkeit und Orientierungslosigkeit. Jede ihrer bissigen Bemerkungen nimmt man ihr genauso ab wie ihre rührende Liebe zu ihrem Vater. Wenn sie mit Tränen erstickte Stimme die neusten unsinnigen Aufzeichnungen ihres Vaters vorliest, die er ihr stolz zeigt, kann sie Gefühle über den Bühnenrand transportieren.

Doch ihre Mitspieler stehen ihr in nichts nach. Peter Franke ist ein herrlich granteliger und doch liebevoller alter Mann, dem das schlechte Gewissen seiner Tochter gegenüber ins Gesicht geschrieben steht. Dirk Ossig kann auf eine wunderbare Weise den vergeistigten und doch etwas weltfremden, immer leicht unbeholfenen Mathematiker geben, der sich für jedes Zuknallen der kaputten Verandatür höchstpersönlich verantwortlich fühlt und brav entschuldigt. Susanna Kraus ist eine überzeugende, mit Finisher gestylte, in den schicken Hosenanzug gekleidete Businessfrau, der man zutraut dieses Projekt auch noch neben ihrem eigenen umfangreichen Lebensprogramm zu managen.

Siegfried Bühr tat gut daran in seiner Inszenierung nur auf seine Darsteller zu setzen und sich jede Effekthascherei zu sparen. Ihr Spiel spricht für sich und kann sogar kleine Längen in der Geschichte, die sicher nicht zu den stärksten Stücken Ackbournes zählt, überbrücken.

Birgit Schmalmack vom 12.11.01