Emilia Galotti


hamburgtheater vom 8.10.03

Show ist alles

Werte sind so schick wie eine braun getäfelte Kantine mit unverwüstlichen Sechziger-Jahre-Stahlrohrstühlen. Reichtum und Dekadenz kommen dagegen die himmelblaue Showtreppe mit Glühlampenbeleuchtung (Bühne: Thilo Reuter) herunter. Zwischen diesen beiden Welten hat Michael Talke seine Version der "Emilia Galotti" im Thalia Theater angesiedelt.

Auf der braunen Seite wohnt die bürgerliche, schöne Emilia (Anna Blomeier) mit ihrem väterlichen Sittenwächter (Markwart Müller-Elmau) und ihrer Mutter (Sandra Flubacher), die nichts gegen etwas mehr Glamour in ihrem Leben hätte. Das Styling der beiden Eheleute (Kostüme: Dagmar Fabisch) verrät viel über ihre Haltung, die nicht gegensätzlicher sein könnte: Der großväterliche Moralist trägt einen schlapperigen braunen Strickpullover, der selbst in Second-Hand-Läden aussortiert werden würde und blickt durch ein braunes Kassengestell auf die Welt. Die dagegen jugendliche Mutter erscheint in engsitzenden Kostümchen, die ihr Braun durch große Muster in Glitzerstoffen aufzuheitern versuchen. Die sittenstreng erzogene Tochter kommt in einem Fototapetenkleid daher, auf der Traum vieler kleiner Mädchen - braune Pferdchen - traben.

Auf der hellblauen, blaublütigen Seite residiert der Prinz (Thomas Schmauser) mit geföntem Pagenkopf und offenem Partyhemd von H&M. Sein allgegenwärtiger Berater Marinelli (Felix Knopp) zeigt in seinem blauen, figurbetonten Brokatanzug nicht nur Sinn für Mode und sondern auch für Prestige, welches seinem Status würdig ist.

In diesem kontrastierenden Ambiente nimmt die bekannte Geschichte von Lessing ihren Lauf. Der schlaffe Prinz verliebt sich aus purer Langeweile nach dem Abservieren seiner Ehemals-Geliebten Gräfin Orsani (Natali Seelig) in die Bürgerstochter Emilia, die er ein einziges Mal gesehen hat. Ein kleines Hindernis stellt ihre anstehende Vermählung mit dem Grafen Apiani (Andreas Döhler) dar, deren Überwindung für den Strippenzieher Marinelli aber eine willkommene Herausforderung darstellt, die ihm sowohl Abwechselung und wie auch Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten scheint. So wird die Braut gekidnappt, in des Prinzen Lustschloss gebracht und sich des Bräutigams durch eine herumirrende Kugel entledigt. Der Vater sieht die Ehre von Emilia bedroht und nur noch durch Tötung der Tochter zu retten.

Den Figuren auf der Zwei-Welten-Bühne fehlt jede Überzeugung, die Orientierung geben könnte. Auch der Blick auf die andere Seite hilft nicht weiter. Wenn sich der Prinz den Pullover des Alten überstreift und so seinem Wunsch nach einer Art Richtschnur in seinem ach so beliebigen Leben des Nichtstuns ausdrückt, so glaubt man ihm diesen scheinbaren Sinneswandel keinen Augenblick. Nur eine weitere Anwandlung, die seinen öden adligen Alltag würzen soll. Der Vertreter der Werte erscheint allzu altbacken, bieder, lebensarm und zu keiner aktuellen Auseinandersetzung willens und in der Lage. Der Einzige, der für Aktion und Spaß sorgt (und sie durch den ernergiereichen Felix Knopp glücklicher Weise auch auf die Bühne bringt), ist Marinelli. So wird seine Rolle zu der modernsten in Talkes Inszenierung, für die die Showtreppe wie geschaffen scheint. Er inszeniert sein Leben und das des Prinzen als eine Abfolge von Events, für die so etwas wie Moral und Ethik keine zeitgemäßen Maßstäbe sind und für die folglich niemand mehr Verantwortung übernehmen muss.

So scheint die Botschaft zu sein: Show ist alles! Wer gibt sich schon noch mit der Second-Hand-Ware der Werte und Sitte ab? Doch wenn an ihre Stelle nur der schnelle Spaß tritt, bleibt nichts übrig als Austauschbarkeit und Langeweile. Diese Erkenntnis gab Talke nicht jedem mit auf den Weg, denn leider scheint Gleichgültigkeit ansteckend zu sein. Die Haltung der Personen auf der Bühne in ihrer allgegenwärtigen Beliebigkeit übertrug sich wohl auf viele Zuschauer, die wenig angeregt und kaum berührt nach Hause gingen.

Birgit Schmalmack vom 8.10.03


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