Väter und Söhne


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Alles bleibt beim Alten

Der Jüngere versucht die lange, schwere, hölzerne Tafel umzustürzen, doch es gelingt ihm nicht; der Ältere sitzt freundlich lächelnd auf dem Möbelstück. In solchen Bildern drückt Michael Talke in seiner Inszenierung von "Väter und Söhne" nach dem Roman von Turgenjew das Ringen der Generationen um die richtigen Sichtweisen aus. Dabei konnte sich der schüchterne Arkadij (Thomas Schmauser) mit seinem Freund und Vorbild Basarow (Felix Knopp) noch zuvor als die zweite Hälfte einer kleinen revolutionären Zelle fühlen. Die überzeugten Nihilisten statten in den Semesterferien ihren Familien auf dem Lande einen Besuch ab. Mit politischen Diskussionen strapazieren sie die Freundlichkeit ihrer stets geduldig, liebevoll und tolerant bleibenden Gastgeber. Deren Liberalität und Souveränität gegenüber jedweder auch noch so extremen Auffassung lässt selbst die arroganten Angriffe des Bazarow ins Leere laufen.

Die ersten gesellschaftlichen Kommunikationsversuche werden in einem fensterlosen, völlig leeren Zimmer, das komplett mit dunklem Mahagonifurnier ausgekleidet ist, gestartet. Nur ein rundes Loch in der Decke lässt Platz für eine moderne Version eines Kronleuchters und die Öffnung nach draußen erahnen (Bühne: Thilo Reuther). Man steht nebeneinander, macht seine Bemerkungen - je nach Persönlichkeit mehr oder weniger höflicher Art - und keiner hört zu. Bei Talke reden in solchen Situationen alle gleichzeitig und verlassen den Raum, wenn sie nichts mehr zu sagen haben. So hält Arkadijs Vater (Hartmut Schories) seine Begrüßungsrede zum Schluss nur noch für das Publikum im Thalia Theater.

Die anschließende Feier zu Ehren der Heimgekehrten findet im Freien statt. Dazu öffnet sich Decke und Rückwand der engen Holzkiste und die Gesellschaft vergnügt sich zwischen drei kahlen Riesenbaumstämmen vor projiziertem Grün. Jung und Alt spielt hier einträchtig Federball, tanzt Polonaise, kippt die Schnäpse und verjagt die Mücken. Gleichzeitig wird das Angebot am jeweilig anderen Geschlecht sondiert. Die beiden eingeladenen, jungen Schwestern Anna (Natali Seelig) und Katja (Jana Schulz) finden bei den Freunden Anklang und Bazarow reizt mit seinem gekonnten Posieren am Baumstamm mehr als nur eine der Frauen. Auch die herrlich aufgekratzte Dunjascha (sehr präsent: Sandra Flubacher) in ihrer blonden riesigen Dauerwellenmähne ist begeistert. Doch Romantik und Liebe sind für den Nihilisten genau wie alle anderen Werte eine Illusion. Nach heftigen Flirtangeboten seitens der schönen, jungen Witwe Anna ist es allerdings um seine Prinzipien geschehen.

Angesichts der jahrhundertealten Bäume scheinen die revolutionären Ideen der jugendlichen, überschwänglichen Jungrevolutionäre erstickt zu werden. Die Stämme bewegen sich nicht einmal, wenn man daran rüttelt. Sie werden höchstens gefällt, um daraus Tische oder Wandverkleidungen zu machen und so Behausungen zu schaffen, die einem die Luft zum Atmen knapp werden lassen angesichts ihrer bedrückenden Dunkelheit, Fensterlosigkeit und Begrenztheit.

Noch nie zuvor man wohl einen so guten Thomas Schmauser gesehen. Er ist eine Idealbesetzung des Akadij. Seine hängenden Schultern, sein eingeknickter, stets nickender Kopf, seine fahrigen Handbewegungen, seine schlaksige Haltung, sein ständig stockender Redefluss drücken perfekt seine Unterwürfigkeit, seine Bewunderung, seinen allgegenwärtigen Wunsch nichts falsch zu machen aus. Niemanden will er verletzen. Alle findet er einfach nett. Diskussionen führen bei ihm meist dazu, dass er erkennt: "Eigentlich auch egal...". Er will es jedem Recht machen. Zunächst in erster Linie seinem so bewunderten, coolen, aggressiven Nihilisten-Freund, dann aber auch den netten Leuten von Land, die brav ihre Pflichten erfüllen und sich tapfer durchs Leben schlagen. Ihre Überzeugungen sind durch ihr gelebtes Leben geprägt, während sein genialer Freund nur das Aber seiner theoretischen Kritik vorzuweisen hat. Und auch dieses bricht angesichts seiner plötzlich aufkommenden Gefühlsaufwallungen, die er nie für möglich gehalten hätte, zusammen. Die Zurückweisung von Anna lässt Basarow sich auf die nächste Frau stürzen, ausgerechnet die Geliebte des Vaters. Onkel Pawel (Harald Baumgartner)fordert ihn zum Duell, das ohne Toten ausgeht und Basarow veranlasst sich mit seinem Vater (Markwart Müller-Elmenau) als Helfer in der Typhusepidemie zu verdingen. Er infiziert sich und stirbt kurz darauf.

Alles bleibt beim Alten: Der Tisch bleibt stehen, die Bäume wachsen weiter, Akadij heiratet Katja, sein Vater heiratet die Geliebte (Doreen Nixdorf), Basarows Vater geht mit seiner Frau (Katharina Matz) zwischen den Bäumen spazieren. Generationenkonflikte müssen verpuffen, wenn die Lebenswelten der Jungen und Alten so ähnlich sind, dass die Bedingungen kaum Spielräume lassen - außer den für Federball zwischen den dicken, unverrückbaren Baumstämmen.

Talke ist wie schon mit "Das Kind" in der Gaußstraße eine hervorragende, spannende, intelligente Interpretation gelungen. Bis in die Nebenrollen hinein glänzen die exzellenten Schauspieler. Das Premierenpublikum feierte den Regisseur mit seinem Team mit großem Beifall.

Birgit Schmalmack vom 5.10.02