Praca Roosevelt


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Nagelbetten des Lebens

Das Leben der Menschen auf der Praca Rosevelt, einem Platz in Sao Paulo, ist hart. Sie fühlen sich wie Fakire, die sich Hornhaut für ihr Lebens-Nagelbett zulegen müssen. Hier (oder auch woanders) leben Menschen, die  trotz einer Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit die Suche nach ein wenig Glück und Sinn nicht aufgeben. Verzweifelt und wütend kämpfen sie gegen die Aussichtslosigkeit an. Immer wieder springen sie gegen die Gummiwände, die die Bühne begrenzen. Weiß und abwaschbar wie sie sind, werden später alle Spuren dieser noch lebenden Menschen rückstandslos beseitigt werden können.

"Sie müssen sich meine Frau in weißem Hochzeitskleid vorstellen", fordert der Polizist Mirador (Peter Moltzen) das Publikum auf. Fähig ist er zu dieser Distanz zu seiner eigenen Biographie nur, weil er ins Koma gefallen und somit aus seiner Geschichte herausgetreten ist. Seine Frau (Judith Hofmann) ist an sein Krankenbett zurückgekehrt, obwohl sie ihn nach dem Tod ihres dealendes Sohnes verlassen hatte. Wenn beide in - sie in einem schlichten papierartigen Kleid und er in den Resten seiner aufgemalten Polizistenuniform - zärtlich miteinander tanzen, ist das einer der rar gesäten Momente auf der "Praca Rosevelt", die einen Hauch von Glück zeigen. Denn von vielen einzelnen, wenig erfreulichen Schicksalen erzählt die Autorin Dea Loher.

Mirador liegt im Sterben, nachdem er als Polizist seinen Sohn mvergeblich vor dem Absinken in der Drogenkriminalität zu retten versucht hat. Concha (Verena Reichardt) hat Krebs, kündigt ihren Sekretärinnen-Job bei ihrem Chef Vito (Hans Löw) und versucht noch ein kurzes Glück mit dem Transvestiten Aurora (Markwart Müller-Elmau) zu erhaschen. Der Waffenproduzent Vito ist von Gewissensbissen geplagt und entscheidet sich dafür seine Firma abzubauen und noch mehr Leute in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Dann lernt er die ebenso einsame, neurotische Bingo (Natali Seelig) kennen und beschert den Zuschauer einen weiteren liebevollen Augenblick. Mit ihrem slapstickhaften Stuhlballett in dem leeren Büro beweisen beide nicht nur sportliches Geschick sondern auch, dass sie trotz aller widrigen Umstände zueinander wollen. Schließlich setzt sich Bingo mit einem Stuhl auf Vitos Bein und die beiden finden so ein vorübergehend stabiles Gleichgewicht aus Nähe und Distanz.

Das bewährte Team aus Regisseur Andreas Kriegenburg und Dea Loher lässt von Beginn der dreieinhalb-stündigen Tour de Force an wenig Hoffnung auf ein Happy End zu; allzu aussichtslos erscheint das anstrengende Treiben auf dem Platz. Menschen, die in Mülltüten wohnen, Drogendealer, die auf den Bäumen schlafen, Arbeitslose, die mit dem Sammeln von Pfanddosen ihren Lebensunterhalt verdienen - das alles verheißt kaum gloriose Zukunftsaussichten. So sind auch die, die noch am Leben sind und noch Wohnung und Job haben, vom Verfall gezeichnet. Trockene Kommentare von Vito und Concha: "Wir sterben sowieso früher oder später." "Da ist etwas Wahres dran". Mit diesem Galgenhumor schaffen Loher und Kriegenburg geschickt ein ständiges Wechselbad der Gefühle, das am Ende zu einem perfiden Höhepunkt kommt.

Zu Conchas Trauerfeier werden die Personen der Einzelgeschichten zusammengeführt - sogar mit ein paar auf die Bühne gelotsten Zuschauern - und Kriegenburg gaukelt dem Publikum kurz mit Tanz, Gesang, Sitzkissen und Cocktails eine wehmütig-schöne Feier-Stimmung vor. Um sie dann derartig entspannt jäh abstürzen zu lassen. Sie müssen sich mit allen grauenvollen Details die Folterung von Mitadors Sohn, der aus dem Dealergeschäft aussteigen wollte, anhören. Das ist sprachliche Folter, die in ihrer Schrecklichkeit selbst durch die nur berichtende Form nicht abgemildert wird. Ein erwünschtes Happy-End ist für die Menschen der Praca Rosevelt sowie für das Publikum eben nur ein Traum.

Sechs hervorragende Schauspieler und die bilderreiche, immer wieder überraschende Umsetzung von Kriegenburg machen die Inszenierung zu einem spannenden, interessanten, anstrengenden und sehenswerten Theaterabend.

Birgit Schmalmack vom 21.6.04