Du kannst deine Mutter nicht alleine lassen

Der Theatermann Einar Schleef hat sich die Zeit genommen und seiner alternden Mutter gut zugehört. Ihr vierundachtzigjähriges Leben hat sie ihm erzählt und er hat es in der Biographie "Gertrud" in zwei Bänden zu Papier gebracht. Der Duktus ist der einer alten Frau, die nur noch wenig Zeit hat, alles zu berichten, was ihr widerfahren ist. Gewohnt auf das Unwichtige zu verzichten und das Pragmatische in den Vordergrund zu setzen, sind ihre Sätze knapp, häufig verzichtet sie auf Objekte, auf Artikel. Nur auf den Inhalt kommt es ihr an, die Form ist unwichtig geworden. Und sie hat viel zu erzählen. Von 1909 bis 1993 hat sie in Sangerhausen, in Sachsen-Anhalt gelebt. Weimarer Republik, Nazi-Zeit, DDR und das wiedervereinigte Deutschland - alles hat sie miterlebt. Zwei Söhne hat sie geboren, beide sind sie in die BRD geflüchtet. 1971 starb ihr Ehemann, danach lebte sie alleine.

Judtih Wilske hat dieses Mammutwerk als Theateradaption in einer der leeren Kampnagel-Hallen uraufgeführt. Mit dem interessanten Kunstgriff, zwölf verschiedene Gertruden verschiedener Altersstufen gleichzeitig ihren Lebensabschnitt erzählen zu lassen, bewältigt sie die Stofffülle, bzw. überlässt es dem herumwandernden Zuschauer ,welchen Part er sich aussuchen möchte. So kann er sich anhand eines Lageplanes seinen eigenen Erinnerungsabend zusammenstellen und eigene Schwerpunkte setzen. Sei es nach der Zeitspanne, sei es nach der Schauspielerin. Jede liegt, sitzt im oder steht neben einem Krankenhausbett, breitet ihre Erinnerungsstücke wie Fotos, Tagebücher, Schulhefte oder gepresste Blumen auf der Bettdecke aus. Der Zuschauer wird so in seiner Zuhörerrolle zu dem angesprochenen Sohn Einar- kann sich aber im Gegensatz zu ihm immer wieder aus der Situation lösen und zu einem neuen Bett gehen.

Das Stück thematisiert den Umgang mit alternden Menschen in Deutschland und bezieht dazu klar Stellung: Alte Menschen haben viel gesehen und viel zu berichten, es lohnt sich ihnen zuzuhören.

Am Ende des gut einstündigen Zuhörens hätten viele der Zuschauer sicher gerne nach eine Weile weiter den Erzählungen gelauscht. Die Zeit war ganz im Stile der Sprache knapp bemessen um an jedem Bett zu verweilen. So würde es sich lohnen ein weiteres Mal zur Aufführung zu kommen und dann einen ganz anderen Abend zu erleben.

Birgit Schmalmack vom 16.10.03