Gefangen in Einsamkeit

Eine Frau hängt zusammengekrümmt zwischen vier Seilen auf halber Höhe der Thalia-Bühne. Gefangen von ihren eigenen Verstrickungen und doch schwebend in der luftigen Höhe ihrer möglichen Freiheiten.

So beginnt Andreas Kriegenburg seine Interpretation der "Johanna von Orleans" von Schiller. Er kontrastiert die historische Figur der Glaubenskämpferin mit einer heutigen Johanna. Diese breitet in sieben Monologen, die Kriegenburg zwischen die Szenen des ursprünglichen Dramas schneidet, ihre eigene Gefangenheit in ihrer Orientierungslosigkeit aus. Das einzige, was sie mit der historischen Namensgenossin gemeinsam hat, ist der Wunsch nach einem Liebespartner, mit dem ihre Einsamkeit ein Ende haben dürfte. Für beide geht er aus unterschiedlichen Gründen nicht in Erfüllung: Bei der historischen Johanna aus ihrer tiefen Überzeugung heraus, dass sie eigentlich nur ihrem göttlichen Auftrag zu dienen habe und sich nicht durch irdische Freuden davon ablenken lassen dürfe. Und bei der heutigen durch ihre mangelnde Fähigkeit aus ihrem Gefängnis der Selbstbespiegelung zu gelangen.

Kriegenburg wagt eine anstrengende Annäherung an den Text. Die vermeintlich Stärke von Glaubensfundamentalisten, die fest an ihre Mission glauben, stellt er der Schwäche von modernen Wertelosen gegenüber. Er zeigt, wie erstere sie zu menschenverachtenden Mördern macht, die getreu ihrer Ideale alles niedermetzeln, was die falsche Staatsangehörigkeit besitzt, während letztere zu purer Selbstbezogenheit verkommt. Indem die moderne Johanna sich in die historische hineinträumt, kann sie ihren Wunsch nach Stärke durchleben und -leiden.

Kriegenburg mutet seinem Publikum einiges zu. Es darf sich weder von der wechselnden Besetzung der Rollen noch durch die Zeit- und Realitätssprünge verwirren lassen. Auch die Hauptfigur wird in verschiedenen Stadien von verschiedenen Schauspielerinnen gespielt. Natali Seelig ist die grandiose heutige Johanna, die am Ende sich soweit in die historische hineinversetzt, dass sie auch den Part von Doreen Nixdorf übernimmt, welche die früheren Phasen übernahm.

Nach der Pause, d.h. nach zwei Dritteln des Stückes, gelangt die Inszenierung nicht zuletzt dank der zahlreichen, wunderbaren Bühnenbilder von Johanna Pfau zu mehr Konzentration. Riesengroße Zahnräder zeigen dann das Ferngesteuertsein der handelnden machtgierigen Personen. Eine Zelle, die ganz aus Abflussrohren zusammengesteckt ist, markiert einen eindrucksvollen Kerker für die in ihren Gewissensbissen eingesperrte historische Johanna. Und vier schwebende Toreingänge versinnbildlichen die Lösgelöstheit und Orientierungslosigkeit der vermeintlich festen Regeln der Gesellschaft. Die Aufführung hätte sicher noch mehr gefesselt, wenn von dieser Stringenz auch zuvor mehr zu spüren gewesen wäre.

Birgit Schmalmack vom 20.9.04

www.hamburgtheater.de