Frühlings Erwachen


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MTV-Teenies von gestern

In einem Universal-Innenhof (Bühne: Kathrin Frosch) eines rosaroten Schul/Wohn/Fabrik-Ensembles mit riesengroßen Werkstoren trifft sich die Clique um Melchior (Andreas Pietschmann) und Wendla (Susanne Wolff). Hänschen, Otto, Ernst, Moritz gehören in ihren kleidsamen kurzen Hosen mit zu kurz geratenen Anzugjacken dazu und Thea und Martha in ihren kurzen Mädchenkleidern mit Schleifen- und Volantverzierungen bereichern den weiblichen Part. So um die vierzehn sind sie alle und schwer in der Pubertät.

Ihre Kleidung verrät, dass sie nicht ganz von heute sind. Ihr pubertierendes Verhalten und ihre Probleme aber könnten von 2001 sein: Ihr ständiges Schielen auf das jeweils andere Geschlecht, mit dem man doch so gerne in Kontakt kommen möchte, aber nicht weiß, wie man es nur anstellen soll. Ihr Möchtegern-Großsein, das sich sowohl im lässigen Zigarettenrauchen wie auch im souveränen Wissensvortäuschen bei den wirklich wichtigen Themen äußert. Die Wissensgebiete, die in der Schule auf dem Plan stehen, gehören gewiss nicht dazu. Auch wenn der Lehrkörper auch schon etwas von dem Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele gehört haben soll, darf es sich doch nur in eurythmischen Tanz zu der "Frühling lässt sein blaues Band" austoben. Da interessieren die Jugendlichen schon eher die E-Gitarre und das schöne Gefühl sich vom Ventilator, der den Innenhof von Zeit zu Zeit belebt, durchpusten zu lassen. Ebenso schöne Gefühle lassen sich mit dem Gartenschlauch erzeugen, der sich schon mal kurzerhand in die weiße, riesengroße Unterhose gesteckt wird. Ebenfalls viel interessanter sind die Aufzeichnungen des vielseitig gebildeten Melchior, der den reichen Bücherschrank seiner freigiebigen Mutter eifrig studiert hat und so den anderen ganz genau erklären kann, wie denn nun dieser interessante Akt des Kindermachens vor sich geht.

In diesem Punkt ist der Zeitpunkt der Entstehung des Stückes "Frühlings Erwachen" von Frank Wedekind noch am auffälligsten zu entdecken. Die Jugendlichen des zweiten Jahrtausends dürften wohl nicht mehr an einem Informationsnotstand leiden. Geblieben sind ihnen aber die Neugier, die Ungeduld, das Gefühl der unendlichen Möglichkeiten, das Gespür für ihre Unzulänglichkeiten, der Neid auf vermeintlich Gesegnetere und ihr Absolutheitsanspruch an das Leben.

Wedekinds "Kindertragödie" beginnt bei Tilman Gersch voller Spielereien, Scherze, Herumalbern, Abhängen, Zeit vertrödeln. Doch der Ernst des Lebens bricht bald über diese Kinder herein. Moritz (Hinnerk Schönemann) schafft zum wiederholten Male das verordnete Lernpensum nicht, wird von der Schule als untauglich verwiesen und sieht keinen anderen Ausweg als den Strick. Wendla und Melchior entdecken gemeinsam die praktischen Freuden der Liebe und stolpern unwissend in eine Schwangerschaft und in eine Abtreibung mit tödlichen Folgen für die Mädchenfrau. So tun sich im Innenhof nach der Pause bald zwei riesige Gräberlöcher auf, die den Spielraum für die Verbliebenen stark einengen.

Tilman Gersch findet für manche Szenen Bilder, die in Erinnerung bleiben. Für Melchiors Anbändeln mit Wendla lässt er die Beiden einen Wurm-Part-des-Deux in Schlafsäcken vollführen, der sehenswert ist. Als sie wenig später aufs Ganze gehen, zeigt er keine nackten Tatsachen sondern steckt er sie in ein gemeinsames Leibchen und lässt sie so das Fliegen ausprobieren.

Gersch hat ein über hundert Jahre altes Stück so mit modernen Zutaten aufgepeppt, dass er sowohl damalige Umständen glaubhaft darstellen wie auch die immer noch aktuellen, unveränderten Schwierigkeiten dieser besonderen Lebensphase deutlich machen wollte. Dass er dabei einen Spagat vollführen musste, merkt man seiner Inszenierung an. So richtet er einen Mix aus heutigen Popsongs und alten Volksliedern, fetziger E-Gitarre und fiepender Blockflöte, lässigen Kapuzenshirts und zarten Rüschenkleidern, selbstverständlich benannten "Mösen" und althergebrachten "Korrektionsanstalten" an. Dass er trotz dieser auferlegten Erschwernisse insgesamt im Plus-Bereich bleibt, liegt nicht zuletzt an den überzeugenden Hauptdarstellern. Pietschmann spielt Melchior als einen selbstbewussten, aufgeschlossenen, alles hinterfragenden jungen Mann. Susanne Wolff ist eine braunlockige, verschmitzte, neugierige, im Unwissen gelassene, rebellierende Wendla. Schönemann stellt Moritz als zunächst hoffnungsvollen, dann zerrissenen, mit sich hadernden, verzweifelten Jugendlichen dar.

Bei den jüngeren Leuten von heute im Publikum jedenfalls kam die Botschaft des Stückes voll an. Ihnen fiel die Identifikation mit den Jugendlichen oben auf dem Bühnenhof anscheinend nicht schwer. Oder waren es eher die running gags, auf die Gersch nie lange warten ließ, die ihre Stimmung so anregten, dass ihr Beifallrufen, -trommeln und -klatschen kein Ende finden wollte?

Kritik von Birgit Schmalmack vom 9.6.01