Oedipus


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Tranig-tragischer Held

Umschlossen von einem fotorealistischen Panoramabild einer bergigen Landschaft mit drei sozialistisch anmutenden Blockbauten neben einer Holzhütte steht Oedipus (Jens Harzer) auf einem langgestreckten Podest auf der Bühne des Schauspielhauses und räsoniert über die Lage Thebens. Nachdem er die Herrschaft über dieses Land nach dem erfolgreichen Lösen eines Sphinx-Rätsels übernommen hat, wütet hier die Pest. Sein Schwager Kreon (Jörg Ratjen) wurde von ihm zum Orakel von Delphi ausgeschickt, um zu Auskunft über die Gründe für dieses Unheil zu bekommen. Er kommt mit der Botschaft zurück, dass der ungesühnter Mord an Laios, dem ehemaligen Herrscher, dafür verantwortlich sei. Also macht sich Oedipus an die Aufklärung des Falles, nicht ahnend dass er selbst der Mörder ist. An ihm erfüllt sich ein früherer Orakelspruch, der ihm und seinen Eltern mitteilte, dass er, der Sohn, seinen Vater töten und mit seiner Mutter ehelichen Verkehr betreiben würde. Beide Parteien taten ihr Möglichstes, um diesem Spruch zu entkommen. Die Eltern wollten ihr Baby töten lassen. Jedoch vom einem Schäfer gerettet kam es zu seinen Adoptiveltern, die der heranwachsende Oedipus für seine leiblichen hielt. Er floh er vor ihnen, als er von seinem Fluch erfuhr, und landete just in dem Land seiner wirklichen Eltern, wo er seinem nie gesehenen Vater Laios begegnete und ihn in einem Streit tötete. Anschließend übernahm den frei gewordenen Herrscherposten und gleich damit die ebenfalls unbemannte Königin als Ehefrau.

In dieser wohlbekannten, alten Geschichte liegen so viele interessante Fragestellungen, dass es sich immer wieder lohnt, sie zu beleuchten. Kann man nichtwissend Schuld auf sich laden? Ist diese Schuld, die in Unwissenheit begangen wird, zu sühnen? Wie unterschiedlich begegnen Menschen dieser Frage, wenn sie Bestandteil ihres eigenen Lebens wird? Welche Kompromisse gehen Menschen aus Machterhaltungswillen ein? Welche Rolle spielen dabei religiöse Vorstellungen? Dürfen Eltern ihr Kind töten, um Unheil zu verhüten? Kann man seinem Schicksal entgehen?

All diese genauer zu betrachten, wäre interessant gewesen, wenn Jan Bosse in seiner Inszenierung mehr Lust dazu verspürt hätte, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Doch Jan Bosse gibt seinen Schauspielern nicht viele Hilfestellungen. Das Bühnenbild bietet keine Anhalts- und Haltepunkte für sie. Das Podest wird sich im Laufe der Vorstellung nur langsam senken und das Panoramabild in drei Schritten immer diffuser werden, bis es ganz verschwindet. Selbst die Kostüme scheinen eher gegen die Schauspieler zu arbeiten. Ist Oedipus und Kreon noch ein recht akzeptables Gewand aus langem Faltenrock und langen Wollpulli bzw. Hemd/Krawattenkombination zugestanden worden, muss sich Hermann Beyer als Seher/Hirte mit negligé- bzw. unterwäscheartigen Kleidungsstücken herumplagen, die seinen Rollen wenig zuträglich sein dürften. Achim Buch als Bote darf einen witzigen Jeansrock und verwaschenem T-Shirt zu Sonnenbrandstreifen auf Armen, Beinen und seinen abstehenden Ohren zum Besten geben. Christiane von Poelnitz als Iokaste muss eine wohl eher behindernde lange Schleppe hinter sich herschliefen, die ihre Bewegungsfreiheit nicht gerade erhöht und ihr selbstbewusstes Auftreten an die Leine legt.

Jan Bosse lässt den Text als Ganzes fast unberührt, stellt wenig eigene Ideenanregungen dazu und gibt den Schauspielern anscheinend freie Bahn ihn zu gestalten. Die Dinge, die er durch das Bühnenbild von Stephane Laime und die Kostüme von Kathrin Plath beisteuern lässt, können die Aussagen eher behindern als unterstützen. In dem er z.B. den Oedipus älter aussehen lässt als die äußerst weiblich attraktiv auftretende Iokaste arbeitet er gegen die Geschichte und vergibt eine Chance der Problematisierung ihrer Beziehung und der Schuldfrage dieser weitergereichten Ehefrau und Immer-Noch-Herrscherin.

Zudem er zeigt hier mit Jens Harzer als Hauptdarsteller einen Oedipus, der scheinbar lustlos zufälligerweise im vorgeschrittenen Alter einen Thron erlangt hat und in einer provozierend langatmigen, leiernden Redeweise seine Untersuchungen zum Wohle Thebens anstellt. Seine Weggefährten agieren zum Glück durchweg sehr viel enthusiastischer und überzeugender. Jörg Ratjen als Kreon ist ein zupackender Pragmatiker, der seinen Schwager unterstützen möchte. Hermann Beyer als Seher Teiresias zeigt klar seinen Willen zur Aufklärung der Taten bzw. als Hirte sein Desinteresse an weiteren Schwierigkeiten mit den Herrschenden. Achim Buch gibt den Boten als einen engagierten Mann, der seinem Auftrag pflichtbewusst nachkommt. Christiane von Poelnitz als Iokaste ist eine willenstarke, liebevolle Frau, die das drohende Unheil viel früher als ihr Gatte aufkommen sieht und ihr Möglichstes tut, um es nicht sichtbar werden zu lassen.

Und schließlich Jennifer Minetti als Einzelverkörperung des Chores: Sie ist der Glücksgriff und die "Idee" des Abend. Wie sie im Einklang mit einer minimalistischen Gitarrenbegleitung in rappendem Sprechgesang den Gedanken und Gefühlen des Chores Ausdruck gibt, ist absolut sehens- und hörenswert. Ihr hätte man einen Abend lang zuhören können.

Jan Bosse hat hier eine textorientierte Inszenierung in der schwer eingängigen Übersetzung Hölderlins gezeigt, die Zuschauer und die Schauspieler weitgehend unangeregt ihren eigenen Gedanken überlässt. Ein wenig inspirierter und inspirierender könnte ein Regisseur schon an das Theaterstück gehen, wenn er es für ein Publikum auf der Bühne realisieren möchte.

Kritik von Birgit Schmalmack vom 4.06.01