Doku-Theater

Alle rufen nach Mama, wenn sie kurz vor ihrem letzten Atemzug sind. So hat es die Krankenschwester Sabine Herfurth erlebt, die während ihrer letzten Arbeitsjahre hauptsächlich mit Sterbenden zu tun hatte. Sie ist eine der Darstellerinnen in "Deadline", eine der Abschiedvorstellungen des Neuen Cinemas am Steindamm. Sie ist allerdings nur über Telefon zugeschaltet, da sie mittlerweile in einem Pflegeheim lebt. Die fünf auf der Bühne präsenten Mitspieler sind wie sie vom Fach in Sachen Tod. Der Steinmetz Hilmar Gesse ist dabei eher ein Mann der Schrift als der Sprache. Er ist der Auffassung, dass von den Menschen Buchstaben übrig bleiben. Jeder davon kostet bei ihm mindestens sieben Euro. Hans-Dieter Ilgner hat in seiner Zeit als Bürgermeister ein "Flammarium" gegründet, das die Verbrennung der menschlichen Überreste auf technisch perfekte Art erledigt. Alida Schmidt ist als Vorpräparandin im Medizinstudium bestens informiert über die sachgerechte Zerteilung von Toten. Olav Meyer-Sievers weiß als professioneller Trauerredner, welche Bilder er am besten als Aufhänger für seine tröstenden letzten Worte nehmen kann. Außerdem kann er genau beschreiben, was beim Aushub eines Grabes auf dem Friedhof zu erwarten ist und wie weit der Zersetzungsprozess die Sarg- und Leichenteile in welcher Tiefe schon bearbeitet hat. Die Trauermusikerin, die lieber bleiben anonym will, sorgt für die passende musikalische Untermalung. Sie kann anhand der ausgewählten Musikstücke, zu denen geweint wird, auf das kulturelle Niveau der Trauergäste schließen.

Auf der Bühne sind Kränze, Blumengestecke, Urnen und Leuchtkästen scheinbar beliebig verstreut, werden aber stets immer wieder von gerade nicht sprechenden Darsteller arbeitsreich umgeschichtet. Einer der Kästen beinhaltet zwei Dutzend Heimchen, die demonstrieren, wie die menschliche Überreste der Nahrungskette wieder zugeführt werden können. Ein anderer zeigt ein Modell des Zimmers der eingeblendeten Krankenschwester, kann aber wie die übrigen mit einem Großdia bestückt werden, das dann die jeweilige Szene bebildert.

Das Projekt von Haug/Kaegi/Wetzel stellt ein Theaterstück mit Mitteln des Dokumentarfilmes auf die Bühne. Die "echten" Mitwirkenden spielen keine Rollen, sondern zeigen den Zuschauern Teile ihres eigenen Lebens. Schnelle Schnitte und - anders als im Film - Gleichzeitigkeiten der Szenen ermöglichen dem Regie-Team eine interessante Kontrastierung von Tatsachen, Informationen und Meinungen, bei der der Humor nicht zu kurz kommt. Angesichts des Themas lag ja die Vermutung nahe, es würde ein todernster Abend werden. Das verhindern die drei Regisseure mit viel Sensibilität für das punktgenaue Timing und den richtigen, unaufgeregten, sachlichen Ton. Eineinhalb Stunden wird so über ein Thema geredet, das sonst eher zu den häufig verdrängten Gesprächsstoffen gehören dürfte. Das gelingt so überzeugend, weil es fast emotionslos geschieht. Das Erstaunen über diese gefundene Form schafft Raum für die nötige, objektivere Beschäftigung.

Birgit Schmalmack vom 4.5.03