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Auf der Suche nach dem Testbild

Zur Erkennungsmelodie rutschen Ostern Weihnachten (Caroline Peters), Gong Titelbaum (Catrin Striebeck) und Drahos Kuba (Bernd Moss) auf die sorgsam in ein Secondhand-Sammelsurium verwandelte Vorbühne des großen Hauses. Im Parkett haben sich die jugendliche Fangemeinde und ein paar Neugierige für drei Folgen der Kultserie "www-slums" des Schauspielhauses von Rene Pollesch versammelt.

Dann geht es in Höchstlautstärke und -tempo los: Die drei gestressten global-players beklagen sich darüber, dass ihr Leben eine Razzia geworden ist, in der sie den Bullen dankbar sein müssen, wenn sie ihre Identität endlich einmal durch die ständigen polizeilichen Kontrollen amtlich attestiert bekommen. Ansonsten müssen sie im Dauereinsatz für ihren Arbeitgeber durch die Welt jetten. Dabei kann sie am meisten zum Schreien bringen, dass sie zwar dauernd unterwegs sind, aber wo sie auch aussteigen, es überall gleich aussieht. Die Architektur-Mafia hat an jedem Ort der Welt ihre Einflusssymbole aufgestellt. So kann es passieren, dass arme Bankangestellte morgens verzweifelt durch die Straßen irren, die von den Prachtbauten der Konkurrenten flächendeckend gepflastert sind, und ihr Bankhaus einfach nicht finden können.

Am meisten vermisst aber Gong Titelbaum ein richtiges Hotel auf ihren Geschäftsreisen. Überall ist nur ein Zuhause-Hotel für sie gebucht. Hier fehlt es an allem, was für ihn ein anständiges Hotel ausmacht: keine Bar, kein Restaurant, kein Foyer. Stattdessen gaukelt es dem Bewohner vor, als wäre er zuhause. Mit einer Küche, einem Arbeitszimmer, einer Concierge und netten Bildchen versucht es ein gemütliches Heim zu verkörpern. Doch Gong ist schließlich nicht zu Hause. Diesen Widerspruch muss er folglich auch noch verarbeiten und das bedeutet für ihn weitere Überstunden in seinem wohlverdienten Feierabend, der eigentlich der Erholung in seinem Zuhause-Hotel gewidmet sein sollte.

Ostern Weihnachten macht den Schuldigen aus: Es gibt kein Testbild mehr. Dieses hätte den Tag in Zeitabschnitte eingeteilt. Doch in Zeiten der Dauerberieselung durch TV und Internet falle diese Orientierungshilfe weg und lasse den modernen Menschen ohne vorgegebene Ruhezeiten zurück. Folglich kann auch er im 24-Stunden-Takt arbeiten, ansonsten müssen die Unternehmen eben den gen-manipulierten Arbeitnehmer maßgeschneidert in Auftrag geben. So halten sich die armen Noch-Menschen mit Speed auf der Überholspur des Lebens auf Tempo, um ihr ständiges Jetlag auszutricksen.

Die Pollesch-Art, Wörter in eine Verwurstungsmaschine zu stecken und sie in einer Endlosschleife von Sätzen wieder auszuspucken, macht den besonderen Stil dieser Slums der Erfolgreichen des Internetzeitalters aus. Selbst in einer Dreifachfolge der halbstündigen Einzelepisoden zeigt sein Konzept keine Abnutzungserscheinungen. Denn er schafft das Phänomen, das schon manchen hat süchtig werden lassen: Man weiß zwar nicht immer so ganz genau, was die Drei da vor einem eigentlich genau meinen, aber es hört sich im Kern irgendwie ganz richtig an und verführt den Kopf zum zustimmenden amüsierten Nicken.

Den Zuschauer hätten dieser so kurzweilig und trashig verpackten Gesellschaftskritik sicher noch länger zuhören mögen, doch den drei hervorragenden Schauspielern verlangt der Pollesch-Stil Höchstleistungen ab. Sie müssen diese Hackfleischsätze in immer wieder neuen Kombinationen in Schnellsttempo unter einer Koksstaubwolke herausschreien und dabei auch zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Gegenstände aus den verschiedenen Zivilisationsmüllhaufen herausfinden. Die Souffleuse (in goldenen Lettern hier Coach genannt) bekommt in dieser Inszenierung eine ganz neue Stellung und durfte zum Schlussapplaus folglich mit auf die Bühne.

Birgit Schmalmack vom 30.10.01