Splatterboulevard


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Volksbelehrung der witzigen Art

Ellen (Catrin Striebeck) ist im neunten Monat schwanger. Mit ihrem Mann Jack (Bernd Moss) erscheint sie trotz ihres nicht zu übersehenden Zustandes auf die Geburtstagsparty ihres Freundes Gary (Martin Pawlowsky), der ihr sogleich eröffnet, dass er gerade seine fremdgehende Frau Karen erschossen hat und jetzt vor ihren Augen Selbstmord begehen wird. Auch ihr Appell an eine wohl zu erwartende Rücksichtnahme gegenüber einer Schwangeren vermag ihn nicht davon abzubringen. Die Polizei will das Ehepaar aber trotzdem nicht benachrichtigen; Gary hatte Papiere im Haus, mit denen er die Freunde erpressen wollte. Sie müssen erst gefunden werden, bevor die schnüffelnde Ordnungsmacht gerufen werden kann. Bei der Suche helfen die wenig später eintreffenden Gäste Magret (Ursula Doll) und Joanne (Marlen Diekhoff) plus die ebenfalls ermordete, aber wie eine Untote schlafwandelnde, der Geburtstagstorte entstiegene Stripperin (Caroline Peters), mit der sich Gary seinerseits vergnügt hatte.

Wenn Ellen und Jack ihre Wutanfälle gegen die herrschenden Verhältnisse kriegen, helfen nur noch Wortausbrüche, die vor Beleidigungen und Obszönitäten strotzen. Nicht mehr mit dem wortlosen Schreien "AAH!" wie seinerzeit in den "www-slums" machen sie sich in der neuesten Produktion von René Pollesch "Splatterboulevard" Luft. So wird der angekündigte Schreiwettbewerb nur noch mit einem heiseren Krächzen bestritten. Pollesch versucht eine interessante Kombination sich eigentlich widerstreitender Teile: Boulevardtheater, das sich jedem plausiblen Handlungsstrangs verweigert, soll das Publikum nun in den großen Saal locken, seine allabendlich konsumierten Soaps karikieren und durch seinen Unterhaltungswert bereit machen für die ideologischen Botschaften, die Pollesch wieder dem Volk näher bringen möchte. Ein Witz jagt den nächsten, wobei die Grenze zum Kalauer nicht gezogen wird. Im Gegensatz zu den hochverdichtenden Kurzstücken geht Pollesch jetzt in die Breite und gönnt sich lange Sequenzen der säuselnden Theorieverabreichung.

Ähnlichen Stilmix beschert die Neureichen-Villa, die als Location der Verwicklungen gewählt wurde. Janina Audick klebte alle vermeintlich guten Geschmack symbolisierenden Protzigkeiten zu einer rosafarbenen Villa mit Spiegelerker, gedrechselter Galerie und orientalisch angehauchtem Turmpavillon zusammen. Als die Villa zum Schluss wie in einem Drehkarussell stetig um sich selbst kreist, laufen die auf Bühne herumirrenden Volksprototypen ihr und ihrem Leben nur noch hinterher.

Erwartungen an den bewährten und beliebten Pollesch-Stil unterläuft der Regisseur und Autor dabei genussvoll ironisch und nimmt dafür einige Längen in Kauf. Seine Botschaften über die Zusammenhänge zwischen Geld und Liebe sind es ihm wert. Sätze wie diese: "Statt Gefühle gebe ich dir lieber etwas Bedeutendes: mein Geld." "Die Ich-AG hat sich in jedem Winkel meines Leben breit gemacht, auch in meinen privaten Beziehungen." "Der eigene Vorteil strukturiert den Markt, bestimmt also den Marktwert auch jedes Gefühls." wollen in der fast dreistündigen Ansammlung von Witzigkeiten, unsäglichen Handlungsabsurditäten, Obszönitäten und Klamauk-Vorstellungen entdeckt und entsprechend gewürdigt werden. Das Premierenpublikum fühlte sich intelligent unterhalten, wie der langanhaltende Applaus bewies.

Birgit Schmalmack vom 22.09.03


Welt vom 22.09.03

In einem Meer aus Blut, Geld und Koks

Uraufführung: René Pollesch erfindet am Schauspielhaus in Hamburg die Dramengattung "Splatterboulevard

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