Glasmenagerie


www.hamburgtheater.de

Der ganz normale Wahnsinn

Ein Netz kann auffangen und es kann gefangen nehmen. Das Gespinst der Familie Wingfield gehört eindeutig zur zweiten Kategorie. Umso schwerer ist es für die Beteiligten, sich aus ihm zu befreien.

Tom lebt mit seiner Schwester Laura und seiner Mutter Amanda in einem kleinen Häuschen in St. Louis. Sein Vater hat sich schon vor Jahren abgesetzt. Seitdem hat sich die Mutter zunehmend in ihre glorreiche Erinnerungswelt als umschwärmter Teenie verzogen. Sie träumt von ihren siebzehn Verehrern und macht sich Vorwürfe, dass sie sich ausgerechnet einen charmanten Trunkenbold als Ehekandidaten ausgesucht hat. Die Tochter Laura hat statt der Verehrer nur erdrückende Minderwertigkeitskomplexe aufgrund ihrer frühkindlichen Behinderung zu bieten. So hängt die ganze Verantwortung am Sohn Tom. Als einziger Mann im Haus muss er die Familie mit einem öden Lagerarbeiterplatz über Wasser halten. Er bemüht sich redlich Haltung, Verständnis und zugleich eine Art von Distanz zu bewahren. Wenn er es nicht mehr aushält, geht er ins "Kino" und hängt seinen Träumen nach Schriftsteller zu werden.

In dieser Familie gibt es keine Intimsphäre. Alle Rückzugsorte werden von der streng kontrollierenden Mutter aufgespürt. Aus Angst, auch noch die Kinder zu verlieren, zerrt sie alles Innere nach außen. Folglich ist in Sebastian Hartmanns Inszenierung der "Glasmenagerie", die am Samstag im Schauspielhaus Premiere hatte, das Haus der Familie (Bühne: Peter Schubert) ganz aus Glas und steht auf Stelzen über dem schlammigen Boden. Selbst das Klo, auf dem sich die magersüchtige Laura gerne ihres Essens entledigen möchte, hat keine Abschirmung. So müssen die Kinder sich im morastigen Untergrund unter dem Haus verkriechen, um sich einmal unbeobachtet fühlen zu können.

Nur ab und zu begleitet von seinen üblichen Donnergeräuschen, Nebelschwaden, Lichteffekten, Auf- und Niederfahren oder Drehen der Bühne beleuchtet Hartmann ungewöhnlich ruhig und konzentriert den seelischen Zustand der ineinander Verstrickten. Besonders Samuel Weiss beeindruckt in seiner differenzierten Darstellung des tapferen, aber völlig überforderten Familienversorgers. Marlen Diekhoff zeigt eine verbitterte, dominante, ängstliche und hysterische Über-Mutter. Cornelia Wege wird leider nicht im gleichen Umfang Gelegenheit gegeben, ihre (arg gekürzte) Rolle als klein und in der Abhängigkeit gehaltenes Mädchen nachvollziehbar zu entwickeln. Als schönes, zartes, aber ausdrucksloses Wesen darf sie zunächst nur um die Glaswände schleichen. Erst als Tom einen Kollegen als potentiellen "Verehrer" von Laura auf Wunsch der Mutter zum Abendessen einlädt, brechen ihre lang angestauten Sehnsüchte ganz unvermittelt an die Oberfläche. Der arglose Besucher Jim (Thomas Lawinky) lässt sich auf sie ein und begibt sich mit ihr in den morastigen Bodensatz der verdrängten Begierden à la Freud. Hier findet Hartmann Verwendung für eins seiner bewährten Schlammlöcher, in denen sich Laura dann mit Jim wälzen darf. Doch ihre Gefühls-Offenbarung war vergeblich; Jim ist bereits vergeben.

Am Ende stehen sie wieder in wohlbekannter Familienrunde und starren auf den blattlosen, rigoros gestutzten Baum, um den herum das Glashaus gebaut ist. Wie seine wurden auch die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder stets von dem häuslichen Familienregiment streng beschnitten und eingegrenzt. Die Hoffnung auf neue Blätter erscheinen so fraglich wie die auf eine glücklichere Zukunft für Tom und Laura.

Birgit Schmalmack vom 1.12.03