Projektion Europa


Wo liegt Europa?

Gastspiele aus sechs verschiedenen Ländern Europas hat die Leiterin Andrea Tietz ins Schauspielhaus eingeladen. "Projektion Europa" heißt das Festival, das am Freitag startete. Das estnische Theater NO99 hängte die Messlatte des Unterhaltungswertes für alle folgenden Produktionen hoch.

Die politisch- kabarettistische Musik- und Tanz-Revue "Nafta" hatte die Theatergruppe aus Tallinn in den Malersaal mitgebracht. Komplett mit deutscher Übersetzung übertitelt, konnte sich jeder, der des Geschwindigkeitslesens mächtig war, neben dem reichem optischem Angebot auch die inhaltliche Komponente erschließen. Mit zahlreichem Daten- und Filmmaterial wurde die These der baldigen Energieverknappung und des damit einhergehenden Wirtschaftseinbruches nachgegangen. Immer wenn die eindeutige Datenlage zu deprimierend wurde, verschafften sie die vier Männer und eine Frau mit einem meditativen "Juhuja!" eine kurze Pause des Atemholens. Der Laune des Publikums wurde mit bis ins Letzte ausgefeilten Tanzchoreographien zu Popklassikern Auftrieb verschafft. So waren die inhaltlich schwerwiegenden und darstellerisch leichten Momente gekonnt ausbalanciert und das Publikum bedachte die Eröffnungsaufführung mit jubelndem Applaus.

Im Rangfoyer folgte eine ebenso launige wie tiefschürfende Arbeit von Katja Hensel und Reiner Holzapfel: "Wie Europa gelingt" . Eine Familienaufstellung von sechs europäischen Ländern wollte sie wagen, damit der innereuropäischen Probleme endlich auf angemessene, tiefenpsychologische Art und Weise Rechnung getragen werden könnte. Doch nachdem sich Spanien ("Ich möchte auf unser Wasserproblem hinweisen!"), Lettland (Wir sind doch bloß ein Anhängsel"), Niederlande ("Ihr dürft auch Holland zu mir sagen!"), Polen (Was ich in meiner Kühltasche habe, verrate ich nicht"), Zypern ("Mein schnauzbärtiger Zwillingsbruder macht wieder mal Ärger") und Malta ("Weiß jemand, wo das liegt?") tatsächlich am Schluss ihrer therapeutischen Bemühungen versöhnt in den Armen liegen, fängt die Psychologin (grandios von Katja Hensel selbst gespielt) selbst bitterlich an zu weinen: Sie ist die europäische Verfassung, die auf Eis gelegt und kurzerhand zur "Grundlage für eine eventuelle Verfassung" degradiert wurde. Ein geschickter Schachzug des Autoren- und Regieteams, der der vergnügliche Psychoanalyse zu ihrem dramatischen Höhepunkt verhalf. Dass auch diese Vorstellung dem Publikum sehr gut gefiel, war an seinem Applaus abzulesen.

Der Sonntag hatte die Schweiz zu Gast. Auch die Berner Gruppe "Theater Club 111" enttäuscht die an sie gestellten Erwartungen mit "Elsi, die seltsame Magd" nicht. Genüsslich bediente sie die Klischeevorstellungen der Deutschen und zeigte Theater, das tief in die Trickkiste des Volkstheaters griff. Gestenreiches, übertriebenes Spiel wie überdeutliche Symbolik gehört dazu. Rot-weiß-karierte Gardinen säumten die Bühnendeko mit mächtigem Holztisch und Alpenpanorama. Auch diese Gruppe spielte gekonnte mit dem Mittel der Sprachvielfalt. Lieferte sie die Rahmenhandlung noch auf Hochdeutsch wechselte sie in der Geschichte selbst in einem urtümlichen Berner Dialekt, der die deutschen Übertitel sinnvoll erscheinen ließ. Als jedoch in die heimelige Eintracht der Schweizer Bauerndorfes eine dunkelhäutige Ausländerin kommt, blicken sich auch die Schauspieler immer wieder Hilfe suchend zu den Übertiteln um: Das Verständnis zwischen ihnen und dem Eindringling ist erschwert. Noch weiter wird es gestört, als der Liebreiz und der Arbeitseifer der neuen Magd die heimischen in den Schatten zu stellen droht. Der Neid sprießt, als der Bauernsohn Christen die Neue heiraten will. Diese Geschichte von Jeremias Gotthelf haben sich Regisseurin Meret Matter und Autorin Stephanie Grob vorgenommen und sie auf heutige globalisierte Zeiten weitergedacht. So wird die dörfliche Idylle mit Störelementen versehen. Immer wieder fließen wohltuend irritierende sprachliche und politische Versatzstücke aus heutigen Tagen mit ein. Zum Schluss steigert sich die Ironie so weit, dass das verhinderte Liebespaar in den Revolutionswirren gemeinsam in den Tod geht und so einen unsterblichen Mythos begründen wird, den man geeigneten Merchandising-Produkten geschickt vermarkten wird. Somit konnte sich das Festivalpublikum wieder über einen sehr amüsanten Abend freuen.

Birgit Schmalmack vom 4.9.07

Im Gedankenkäfig

Gefangen in einem Gedankenkäfig, eingeschlossen im Labyrinth der Enttäuschungen, Hoffnungen, Halbwahrheiten, Wünsche, Sehnsüchte, Begierden und Verletzungen: so können sich ein Mann und eine Frau im Laufe ihrer Beziehung vorkommen. Eine Befreiung wäre möglich, doch zu sehr verlangt die Vergangenheit nach Aufarbeitung, als dass er genutzt werden könnte.

Das Theater Dot aus Istanbul baute für diese Konstellation in "A Play for Two" einen Stahlkäfig um die 26 Zuschauerplätze in der Mitte herum. Die beiden Darsteller kletterten, wanden und schoben sich mühsam und schweißtreibend durch das enge Stangengewirr, das eine geniale Metapher für ihre verzwickte Gefühlslage war. Nie berühren sie dabei den Boden der Tatsachen oder nutzen die offenen Seitenwände zum Aussteigen. Körperliche Nähe lassen sie, während sie von früheren Umarmungen oder Küssen sprechen, zu keinem Zeitpunkt zu.

In Ein-Wort-Sätzen nähern sich sie zunächst vorsichtig ihrer Vergangenheit an, um sich bei schmerzlichen Erinnerungen die Satzbrocken in einem Stakkato um die Ohren zu schleudern.

Zum Schluss der gut einstündigen Aufführung ist ihnen klar geworden: Ihre Beziehung wird keinen zweiten Aufguss erleben. Die Frau überwindet die letzte Ecke des quadratischen Käfigs und der Mann bleibt zurück. Auch beim Schlussapplaus des Publikums im Rangfoyer des Schauspielhauses verharren sie in ihren Positionen. Ein Ausstieg aus dem großen System des gesellschaftlichen Lebens ist nicht vorgesehen, wenn sie sich ab jetzt auch unabhängig voneinander unterschiedliche Lebensräume erschließen werden.

Birgit Schmalmack vom 10.9.07