Hinter Gittern

Die Bühne in der JVA Santa Fu ist von Gittern umzäunt, hinter denen die zwölf  Söhne von Insassen eines KZs versuchen der Geschichte ihrer Väter auf die Spur zu kommen. Obwohl alle Opfer der Nazis waren, sind sie zu Tätern geworden, da sie Gefangene aus ihren Reihen im Laufe von Raufereien töteten und auf Grund ihrer prekären Nahrungsmittellage auf die Idee kamen, das vorhandene Menschenfleisch nicht ungenützt verkommen zu lassen, sondern zur Aufbesserung ihres Speiseplanes zu nutzen.

Alle Rollen werden von Gefangenen der JVA gespielt. Viele Dialektfärbungen sind beim Text "Die Kannibalen" von George Tabori zu vernehmen, da das Ensemble eine bunte Nationalitätenmischung aufweist. Sie sind mit großem Engagement bei der Sache der KZ-Häftlinge bzw. bei ihrer eigenen. Geschickt haben die Regisseure Rolf Siebert und Winfried Tobias viele lautstarke Massenszenen mit eingebaut, die zum Teil mit Musik untermalt werden. Sie spürten viele besondere Talente auf, die notgedrungen zur Zeit meist im Verborgenen bleiben müssen. Der Wortführer der KZ-Insassen "Onkel" (Joe Marx) überzeugt mit selbstbewusstem, unaufgeregtem, eindringlichem Spiel. Er will seiner Gruppe seine ethisch einwandfreie Überzeugung beibringen, scheitert jedoch an deren Übermacht. Sein Standing gegenüber ihren Angriffen wirkt nie einstudiert oder gekünstelt. Klaub (Recep Soylu) gibt seine Rolle des Medizinstudenten sehr engagiert und voller Überzeugungswillen.

Der Nazi-Scherge Schrekinger (Zoran Djordjevic) darf mit einer hervorragenden Tenorstimme einen hollywoodreifen Treppenauftritt zelebrieren, der seiner Aufgabe würdig ist. Er ist derjenige, der über Leben und Tod der zitternden Häftlinge entscheidet. Er befürwortet ihre Art der Beseitigung ihrer Leichen und beschleunigt die Essensausgabe. Plötzlich vergeht ihnen der Appetit, da ihnen die Absurdität ihres Verhaltens bewusst wird. Schrekinger erhält so ein weiteres Indiz zum Aussortieren der Todeskandidaten: Wer isst, darf bis zum nächsten Duschantritt leben.

Die inhaltlich sehr anspruchsvolle Geschichte der Schuldfrage von Opfern gerät bei dieser Aufführung naturgemäß etwas in den Hintergrund. Die eigene Geschichte der Häftlinge in ihrem Gefängnisalltag erscheint präsenter. Wie das Eingesperrtsein und das Unterdrücken vieler Bedürfnisse die Gewaltbereitschaft ansteigen lässt, führen die Zwölf immer wieder überzeugend vor. Einmal sieht sich der Regisseur sogar genötigt in eine eskalierende Schlägerei auf der Bühne einzugreifen. Dieser inszenierte, augenzwinkernde Moment spielt mit der Erwartungen des Publikums nach kaum zu bändigenden Sträflingen. Dieser Abend bietet wohl weniger einen Einblick in die Situation der "Kannibalen" sondern eher  - auf dem Umweg über diesen Text - in die Gefühlslage der Insassen von Santa Fu. Das ist dem Leitungsteam sicher nicht ganz unbeabsichtigt unterlaufen. Gerade die Distanz der fremden Situation machte es den Laienschauspielern leichter, sich auf das Aufspüren von Ähnlichkeiten einzulassen. Die begeisterten Zuschauer feierten verdientermaßen die engagierten Darsteller, für die dies einer der seltenen Momente sein dürfte, in denen sie von ihrer Umwelt so uneingeschränktes Lob bekommen. Dem entsprechend groß ist ihre Freude über den Applaus.

"Theater hinter Gittern" - diese Idee von Siebert und Tobias - zeigt die persönlichen Gesichter der Männer hinter den Kriminalkarrieren und eröffnet dem Zuschauer einen differenzierten Blick auf die Menschen hinter den Gittern. Die auf der Bühne öffnen sich zwar nach der Aufführung zum Gespräch der Darsteller mit den Zuschauern, aber nur die Frauen und die Männer mit den roten Bändchen dürfen auch die vier weiteren Schleusen des Gefängnisses passieren, um außerhalb der Mauern ihre Freiheit an diesem Abend besonders zu genießen.

Birgit Schmalmack vom 29.7.01