Clavigo


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Vergnügliche Renovierung eines Klassikers

Da sage noch einer, wenn die Entrümpelung eines Klassikers zur Zeit am Deutschen Schauspielhaus auf dem Programm stünde, bleibe von dem ursprünglichen Werk nichts Erkennbares mehr übrig. Wie man es richtig macht, führt Jan Bosse mit Goethes "Clavigo" vor. Reduziert auf fünf Personen und vier Schauspieler, hat er das Stück gründlich von allen Randverzierungen entstaubt. Er verlegt es für die beteiligten Herren in eine moderne Büroetage und für die Damen auf die Sonnenterasse, welche je nach Bedarf auf der Drehbühne unter hochgeschraubten Wänden nach vorne an den Bühnenrand rotieren. Während das männliche Geschlecht mit den Mechanismen des Bürogestühls kämpfen darf, bricht die weibliche Welt auf den Monoblocks zusammen. Marie verheddert sich beim Aufspannen eines Sonnenschirms so nachhaltig, dass er weiterem Sonnenschutz nicht zur Verfügung stehen wird.

Doch so sehr sich dies auch nach lächerlichem Slapstick anhört, vollbringt Jan Bosse das Kunststück, die Aktionen auf der Bühne etliche Lacher hervorrufen, doch in keinem Moment seine Figuren der Lächerlichkeit Preis geben zu lassen. So wie diese fünf Menschen mit dem Mechanismus ihres komplizierten Lebens nicht klar kommen, bereiten ihnen folglich auch die Beherrschung der Alltäglichkeiten größere Schwierigkeiten. Wenn Clavigo nach seiner vorübergehenden Wiedervereinigung mit seiner Verflossenen Marie im Mülleimer Platz nimmt, erscheint das nur folgerichtig in seiner fatalen Situation. Zum Erkennen dieser braucht er allerdings seinen Berater Carlos.

Der muss ihm hin und wieder die Augen für die tatsächlichen Zusammenhänge am französischen Hof öffnen, ansonsten würde der romantisch veranlagte Clavigo sich der Vorstellung eines reumütigen Happyends mit seiner mittlerweile standesmäßig unpassenden Marie hingegeben. Samuel Weiß ist ein wunderbar wankelmütiger, unentschlossener Möchtegernkarrierist. Er läuft zwar gerne in seinem grauen Maßanzug mit den Goldkettchen herum und fletzt sich - Füße auf dem Bürocontainer - in Großherrenmanier in seinen weißen Bürostuhl, doch er muss erkennen, dass er den strategischen Verwicklungen im Hofstaat nicht ganz gewachsen ist. Er ist eben nur ein ganz kleiner Mensch - und nicht die Charaktergröße, zu der sein Freund und Berater Carlos ihn gerne stilisieren möchte, um an seinem Erfolg teilnehmen zu können.

Wolfram Koch durfte sich selten so wandlungsfähig zeigen. Er gibt in einer Doppelbesetzung zugleich den freundlich-verschlagenen Berater Carlos und den rachsüchtigen Bruder der verlassenen Schwestern. Um sich von dem Einen in den Anderen zu verwandeln, braucht er nur ein paar Haarsträhnen mehr in der Stirn und einen Zottelmantel. Selbst die nicht zu übersehenden karierten Schuhe und das rosafarbene Beinkleid braucht er nicht zu wechseln, um den Eindruck zu vermitteln, dass ein fünfter Schauspieler die Bühne betreten hat.

Caroline Peters ist eine Puppenmarie, die in ihrem durchsichtigen Tüllröckchen traurig und ein wenig trotzig dasteht, wenn sie von ihrer älteren Schwester Sophie ( eine rotzig-freche Christiane von Poelnitz) oder ihrem Beinahe-Ehemann herumgeschubst wird. Bis zum Schluss traut sich ihrem vermeintlichen Glück nicht und hat damit leider Recht: Ihr Geliebter verrät sie auf Grund seiner anvisierten Karriere ein zweites Mal.

Bosse renoviert hier ein altes Bauwerk so gründlich und vergnüglich, dass seine Grundmauern umso deutlicher hervortreten: Die psychologischen Fallstricke des Hochkommens in einer Gesellschaft, mag es die des französischen Hofes oder die eines großen Unternehmens sein, werden in dieser Form bestens sichtbar, spannender und nachvollziehbarer, als wenn sie von all zu viel Zierrat verborgen geblieben wären.

Das ist eine Renovierungsarbeit der besten Sorte.

Birgit Schmalmack vom 24.10.01