Othello


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Störenfried der Ordnung

Das Verhältnis der Gesellschaft zu ihrem Außerseiter beschäftigt die Menschen nicht erst heutzutage. Ist er für sie nun ein stillzusetzender Störenfried oder braucht sie ihn vielleicht dringend zur Konstituierung der eigenen Regeln? Stört er die Ordnung durch sein Anderssein bestärkt oder bereichert er sie? Bedient er selbst die über ihn existierenden Klischees oder versucht er sie durch Überanpassung auszumerzen? Diesen Fragen geht Stefan Pucher in seiner Othello-Inszenierung des Shakespeare-Textes am Schauspielhaus nach. Bei ihm ist dieser Außenseiter ein schwarzer Popstar, beneidet und bewundert und gefürchtet. Mit den Klischees über schwarze Musiker spielt Alexander Scheer als Othello geschickt. Mit lasziven Bewegungen schlendert er auf die Bühne, ein lässiger, sich seiner Ausstrahlung bewusster Mann - rabenschwarz und mit übertrieben roten Lippen. Große Gefühle erlaubt er sich allerdings nur beim Singen und Tanzen. Für seine Liebe zu Desdemona (Jana Schulz) findet er keine großen Worte, sondern greift lieber zur Musik: ein gefühlvolles Liebeslied - das allerletzte von John Lennon "I know it's true, all because of you" - gibt ihrer Verbindung Ausdruck.

Denn cool sind sie beide: Othello und seine Geliebte. Desdemona, erotisch in schwarzen Leder-Hot-Pants und Marlene-Dietrich-Tolle, hat sich mit Othello eine Gelegenheit geangelt, dem miefigen, vorgezeichneten Leben zu entrinnen und Ungewöhnliches, Abenteuerliches zu erleben. Jana Schulz schafft es ihr gleichzeitig Würde, Aufmüpfigkeit und Selbstbewusstsein zu geben. Othello bekommt als Gegenleistung von ihr die vermeintliche Aufnahme in die Gesellschaft. Doch die verbleibende tiefsitzende Unsicherheit wird ihn anfällig machen für Jagos Giftspritzen.

Othello steht im Kontrast zu den stromlinienförmigen Herren im Anzug, die das Sagen haben im Lande. Doch sie sind angewiesen auf diesen charmanten Störenfried; die Armee braucht einen tapferen, erfolgreichen Feldherren gegen die in Zypern eingefallenen Türken. Da kann man auf den erprobten Kämpfer Othello nicht verzichten.

Das schürt Neid. Gerade bei Jago (Wolfram Koch), der seine perfekte Erfüllung der Regeln belohnt wissen möchte. Er ist einer aus den Reihen der angepassten Anzugträger. Er sitzt mitten zwischen den gut gekleideten Zuschauern im Parkett. Mit intrigantem Spiel will er an die ihm zustehende Macht kommen. Den eifersüchtigen Rodrigo (Ben Daniel Jöhnck) und den anerkannten Frauenverführer Cassio (Guido Lambrecht) weiß er für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Seine Weste bliebt dabei rein. Nicht einmal die Frisur oder die Krawatte wird in Unordnung geraten, während er dafür sorgt, dass Othello durch das eingetröpfelte Gift der Eifersucht zum Mord an Desdemona manipuliert und Cassio durch Rodrigo beseitigt wird.

Während Othello seine Frau in ihrem aufgerissenen, weißen Kleid ein letztes Mal liebt, behält er seinen Glitzeranzug an. Um danach als Star aufzuerstehen und einen lässigen, perfekten Showauftritt hinzulegen. Die Ordnung ist wieder hergestellt. Der Außenseiter erfüllt die an ihn gestellten Erwartungen als Tanzpüppchen, ist aber als ernstzunehmender Konkurrent ausgeschaltet.

Die Drehbühne vereinigt in ihrem geschwungenen Bühnenkörper die Felsenküste Zyperns, das golden glänzende Badezimmer Jagos, einen Salon für die Kriegsherren und ihre Damen und genügend Projektionsflächen für Blicke ins Schlafzimmer, auf die Kriegsschauplätze oder auf die Straße vorm Schauspielhaus. Denn dort findet der Mord an Rodrigo während der Pause in aller Öffentlichkeit statt und kann später auf der Bühne als Aufzeichnung verfolgt werden.

Eine hoch aktuelle (nicht zuletzt dank der frischen Neu-Übersetzung von Frank Günther), stimmige, mitreißende Inszenierung ist Pucher mit den hervorragenden Darstellern gelungen. Sie nimmt den Inhalt des Textes ernst, vernachlässigt trotzdem nicht den Unterhaltungswert und lässt Begriffe wie gut und böse, ursprünglich und zivilisiert, integriert und ungewohnt neu überdenken.

Birgit Schmalmack vom 6.10.04