Elektra


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Der Erstschlag führt zum Zweitschlag

"Will ich frei leben, muss ich den Herrschenden gehorchen". Diese Auffassung ihrer Schwester Chrysothemis (Leila Abdullah) kann und will Elektra (Doreen Nixdorf) auf keinen Fall teilen. Sie vertritt ohne Beirrung ihre Meinung, dass Unrecht auch an momentanen Machthabern nicht ungesühnt bleiben darf. Ihre Mutter Klytaimnestra (Almut Zilcher) und ihr Stiefvater (Peter Kurth) sollen für die Ermordung ihres geliebten Vaters mit ihrem Tode büßen. Unheil zwingt weiteres Unheil.

In Dimiter Gotscheffs Umsetzung der "Elektra" im Thalia in der Gaußstraße werden immer neue Täter durch die sich stets drehende Drehtür in die blutrote Bühne befördert. In einem Teufelskreis führt der erste Gewaltakt zu einem weiteren, der die nächsten Racheakte schon in sich birgt. Gotscheff lässt Christa Müller das als eine Frau aus Mykene deutlich machen, indem sie den "Elektratext" von Heiner Müller als Litanei der Geschichte des griechischen Herrschergeschlechtes herunterbetet, die nur eine lange Liste der Tötungsdelikte im Namen der rächenden Gerechtigkeit zu sein scheint.

Wie in einem Bahnhofswartesaal sitzen die Menschen auf schlichten harten Holzbänken oder laufen in ihrem fest umgrenzten roten Areal umher, ohne sich wirklich zu begegnen. Sie sind alle Einzelwesen, die in ihrer eigenen Ideenwelt leben und der Kommunikation mit anderen Wesen nicht mehr fähig sind. Elektra beharrt auf ihrem einzigen Gedanken der Vergeltung, der sie am Leben zu erhalten scheint. Weitere Interessen sind ihr fremd und unwesentlich geworden. Ihre Schwester lebt ihrer Anpassung, die sie brav und bescheiden ihrer Löckchen drehen und damit ihre weibliche Rolle einhalten lässt. Klytaimnestra und ihr neuer Ehemann verfolgen jetzt nur noch ihren Machterhaltungswillen. Orestes (Felix Knopp) und sein Gefährte Pylades (Benjamin Utzerath) verkümmern in dieser Inszenierung zu Witzfiguren, die anscheinend keine ernstzunehmenden Meinungen vertreten, sondern sich willenlos den jeweiligen Wünschen der anderen ergeben, wenn sie nur ihren Spaß weiter verfolgen können. Angesichts der Taten, die sie im Laufe des Stückes verüben sollen, erscheint das als unangemessene Negierung  ihres Tuns und pure Verantwortungslosigkeit.

Alle diese Personen erscheinen statisch und zu keiner Entwicklung mehr fähig. Einzig die Figur der Mutter zeigt eine interessante Geschichte und Gebrochenheit. Almut Zilcher vermag eine Frau zu zeigen, die verzweifelt um ihr Recht auf etwas Glück ringt. Sie stellt sich den bohrenden Fragen ihrer Tochter Elektra und damit ihrer Verantwortung. Sie handelte aus genau den selben Gründen, die ihre Tochter jetzt für sich in Anspruch nimmt. Sie ermordete ihren Gatten, weil er ihre Tochter Iphigenie töten und als Menschenopfer hingeben ließ. Sie weiß genau um die Schuld, die sie dabei auf sich lud, und man nimmt ihr ab, dass sie an ihr noch heute schwer trägt. Sie zeigt wozu Rache bei Racheausübenden führt: Ihre Zerbrochenheit wird nur mühsam von ihrer harten Schale der Macht zusammengehalten. Sie schreit ihrer Tochter entgegen: "Du wirst mein Glück nicht zerstören!" Dabei zeigt ihr Gesicht nicht mal eine Spur von Zufriedenheit, ganz zu schweigen von Glück.

Die Täter holen sich ihre Mordinstrumente aus einem Wassertrog, der vorne am Bühnenrand steht. Sie waschen ihre Hände in Unschuld, denn selbst die Beile, die zu einer Mordtat benutzt werden, hinterlassen in ihrem Reinigungsbad nur trübweißes statt blutrotes Wasser.

Gotscheff macht an diesem Abend deutlich, dass Gewalt den Zwang der Wiederholung in sich birgt und dass er nur ausgesetzt werden kann, wenn dieser Kreislauf durchbrochen wird. Das allerdings bleibt Theorie, denn keine der Bühnengestalten führt einen alternativen Weg vor. Die einzige Person, die den Weg der Gewaltlosigkeit hochhält, ist so schwach und angepasst, dass sie kein Umdenken befördern kann sondern nur weiter systemerhaltend wirkt.

Birgit Schmalmack vom 6.1.02