Rose



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Andererseits...

Eine einzelne Schauspielerin sitzt zwei Stunden lang auf einer fast leeren Bühne (Götz Loepelmann) und erzählt dem Zuschauer ihr Leben. Klingt das nach spannendem Theater? Wenn es sich bei der Schauspielerin um Monica Bleibtreu und bei ihrer Erzählung um eine Lebensgeschichte aus der Feder von Martin Sherman handelt, lautet die Antwort ja.

Wir sind zu Besuch bei "Double-Rose" - Rosala Rose - die ihr tragisches, ereignisreiches Leben nicht auf dem gemütlichen Sofa bei Kaffe und Kuchen sondern auf der harten Holzbank bei Wasser und Tabletten erzählt. Vor einer Jalousie, die ein immer weiter verblassendes Panoramabild von Miami Beach zeigt, berichtet sie - die Jüdin aus einem ukrainischen Dorf - von den Ereignissen, die ihr Leben bestimmt haben. Angezogen von dem Duft der Großstadt landet sie in Warschau und lernt dort ihre große Liebe Yussel kennen. Nach Kriegsbeginn werden sie mit ihrer gemeinsamen Tochter ins Warschauer Ghetto verfrachtet, wo sie ihren Mann verliert und ihrer Tochter nicht davor bewahren kann, dass sie von einem deutschen Soldaten erschossen wird.

Nach zwei Jahren im Untergrund in der Warschauer Kanalisation besteigt sie ein Schiff, das sie in ihre "Heimat" Palästina bringen soll. Die Briten verhindern, dass es ankommt, aber Rosala lernt dort ihren zweiten Mann kennen, der sie stattdessen mit nach Amerika nimmt. Als er verstirbt, steigt sie in das Hotelgewerbe ein, um sich und ihren gemeinsamen Sohn zu ernähren. Sie hat Erfolg: Sie eröffnet ein eigenes Hotel, nachdem sie den ehemaligen Hotelbesitzer zum dritten Ehemann gewählt hat.

Dieser Sohn ist es nun, der Rosala auf ihre Holzbank eine Woche zum der Toten gedenkenden Shiv'a-Sitzen bringt: Er ist nach Israel ausgewandert und sein Sohn hat an seinem Wohnort in den Siedlungsgebieten ein arabisches Mädchen erschossen. Da sitzt sie nun achtzigjährig, bei Wasser, Tabletten (gegen Atemnot und Cholesterin), Eiscreme und Zigaretten und lässt zum ersten Mal die ganze Erinnerung zu. Sie betrauert all die Menschen, die sie im Laufe ihres Lebens verloren hat, in dem Mädchen, für dessen Tod ihr Enkel verantwortlich ist.

Wenn das aber nun nach einem durchgehend bedrückenden Abend klingt, liegt man bei Rosala verkehrt: Sie ist mit einem spitzbübischen, selbstironischen Galgenhumor gesegnet, der ihre Erzählungen mit Seitenhieben würzt.

Die größte Errungenschaft des Judentums ist für Rosala, dass es das "Andererseits" erfunden hat. Mit ihrem Bruder hat sie das abwägende Diskutieren schon in ihrer Kindheit geübt und dieses zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben, wenn sie augenzwinkernd die verschiedenen Sichtweisen auf ihr Leben begutachtet.

Den Glauben an Gott hat sie im Warschauer Ghetto eingebüßt. Seitdem ist für sie Gott nur noch etwas für Menschen, die an Ideen glauben. Und das hat sie entgültig aufgegeben, als selbst die Idee eines Heimatlandes für Juden durch die ungenügende Umsetzung der Menschen ihre ethische Grundlage verliert. So ist Gott für sie zum Schluss nur eine Frage - eine Frage nach dem Mehr, nach dem Dahinter, nach dem Darüber -, auf die die Menschen aber wohl keine Antwort finden werden.

Monica Bleibtreu ist eine Schauspielerin, die dieser Rolle in all ihren Anteilen gerecht wird. Sie verkörpert ganz die agile, intelligente, sprachgewandte, alte Dame, die sich nur ungern zur Bewegungsunfähigkeit verpflichtet hat. Dafür ist ihre Mimik umso beweglicher. Sie drückt all die Trauer, Verzweiflung, Schuldgefühle, Liebe, Abstumpfung und den beherzten Aktionismus aus, welche diese "Double-Rose" ausmachen. Als sie zum Schlussapplaus auf die Bühne springt, merkt man, dass die größte Herausforderung an dieser Rolle wohl war, dass sie zwei Stunden nur sitzen durfte.

Birgit Schmalmack vom 1.12.01