Besetzungsorgie


Neue Akzente

Die neue Intendantin von Kampnagel Amelie Deuflhardt setzt Akzente: Kampnagel wurde zur Eröffnung ihrer ersten Spielzeit besetzt. Das meint sie wörtlich: Alle Ecken, Plätze, Emporen und viele Räume des Fabrikgeländes werden gleichzeitig bespielt.

Vor dem Foyer ist ein roter Teppich ausgelegt. Doch die Stars auf Kampnagel sind nicht die Prominenten sondern die Zuschauer. Sie werden unter dem weißen Baldachin vor dem Haupteingang von einem extra engagierten Jubelchor empfangen. Im Foyer steht eine Stadt, in der es sich die Besucher zwischen Wänden, auf Häuservorsprüngen und unter Dächern gemütlich machen können. Auf und unter den Emporen finden Style-Performances statt. Doch damit natürlich nicht genug: Natürlich wurden auch die Hallen von Deuflhardt mit Kulturangeboten besetzt.

Ein für Kampnagel-Besucher etwas ungewohntes Bühnenoutfit präsentierte sich in der K2. Auf einer heimeligen Guckkastenbühne, die liebevoll bis ins letzte Detail mit antiken Flohmarktartikeln ausgestattet war, präsentierte sich der ausverkauften Halle eine Inszenierung "Sonja" mit leichten Volkstheateranklängen.

Zwei grobschlächtige Männer mit Strumpfmasken über den Gesichtern dringen in die Einraum-Wohnung mit Esstisch, Küchenecke und Bett ein. Ihre zahlreichen, mitgebrachten Tüten beweisen, dass sie auf Diebesgut aus sind. Doch dann stoßen sie beim Wühlen in den Schränken auf ein Fotoalbum und versinken in der Vergangenheit der ehemaligen Bewohnerin dieser Wohnung: Sonja.

Eine einsame zurückgebliebene Dienstmagd, die Opfer eines groben Scherzes wurde: Um sie zu foppen, hat sich Ada, eine ihrer Chefinnen, einen Brieffreund für die schlicht gestrickte, unattraktive Frau ersponnen. Über Jahre hinweg werden nun Liebes-Briefe geschrieben, die alle fiktiv sind und dennoch für Sonja zu ihrem wichtigsten Lebensinhalt und Glück werden.

Das neue Theater Riga unter der Leitung von Alvis Hermanis belässt diese Erzählung der russischen Autorin Tolstaya in seiner erzählerischen Form. Die Rollen der beiden Darsteller sind klar aufgeteilt: Es gibt den berichtenden Erzähler und die stumme Sonja, die den Bericht bebildert. Hermanis scheut dabei weder Stille, Langsamkeit, Kitsch noch Rührseligkeit. Dick sind nicht nur die Schminke des männlichen Darstellers der Sonja aufgetragen sondern auch manche Scherze. So kippt z. B. der Erzähler mit dem Gesicht in die von Sonja hergestellte Torte und bleibt bis zum Ende des Stückes mit einer Maske aus getrockneten Teig- und Sahneresten versehen. Damit macht Hermanis überdeutlich klar, wer für ihn die peinliche Figur des Stückes ist: Nicht die schlichte Sonja mit ihrer Liebe bis in den Tod, sondern die, die sich über sie lustig machen. Das moralisch ambitionierte Stück wagte sich Theatermittel zu bedienen, die mittlerweile im Theater eher selten zu sehen sind.

Birgit Schmalmack vom 1.10.07