Alles ist unwirklich

Christopher Hadley Martin ist der einzige Überlebende eines Torpedoangriffs im Zweiten Weltkrieg. Er strandet auf einem einsamen Felsen im tosenden Atlantik und kämpft um seinen ertrinkenden Verstand. Für ihn verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, zwischen Verrücktwerden, Verrücktsein und Vernunft Bewahren, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Er verliert zunehmend sein Ich in den Fluten. Seine Möglichkeit der Identifikation mit sich selbst sind ihm genommen. Es gibt kein Gegenüber, in dem er sich erkennen kann. So erfindet er sich seine Gesprächpartner. In einem Krebs erkennt er seinen Ex-Kameraden und Nebenbuhler, der sicherlich nicht zufällig Nathanael heißt, seine Geliebte und seinen früheren Regisseur. Mit ihnen durchforstet er sein Unterbewusstsein.

Regisseur Sebastian Hartmann gelingen mit dem starken Einsatz der zwei Schauspieler einige spannende Momente, Bilder und Eindrücke. Guido Lambrecht zeigt eine besonders beeindruckende Leistung. Er ist ein verzweifelter, verängstigter Pincher Martin, der bis zur völligen Erschöpfung um seinen Verstand ringt. Wenn er zum Schluss mit bloßem Oberkörper sich gebetsmühlenartig die Grundfesten seines Zustandes stotternd, kontrolliert, stockend eintrichtert, läuft ihm der Angstschweiß an den Armen herunter und gleichzeitig zittert er am ganzen Körper. Thomas Lawinky ist ein kleines Teufelchen, das Pincher Martin als sein schlechtes Gewissen mit allerlei unliebsamen Erinnerungen und Erkenntnissen piesackt.

Hartmann gesellt den beiden Einsamen auf der leeren Bühne des Neuen Cinemas viele Passanten (darunter Mitglieder des "Station 17 Theater")zu, die in Videoeinspielungen mit unterschiedlichsten Akzenten Auszüge aus der Romanvorlage von William Golding beisteuern. Dadurch kann er die schwere Kost des Textes zeitweise etwas auflockern.. Allerdings sucht nicht nur Pincher Martin vergeblich nach dem durchgehenden Muster in seinem Dasein, sondern auch der Zuschauer in der Bühnenumsetzung. Passend zum Grundtenor der Verunsicherung nimmt Hartmann (fast zu) viele Aspekte einer Reise durch das Unterbewusstsein mit auf. So versäumt er es auch nicht, die Biographie als Schauspieler mit einzuweben und Besetzungsprobleme auf dem Bühnenfelsen zu diskutieren. Dann wird wieder den tiefgründigen Sinnfragen nachgegangen und Nathanael ist ein Vortragsreisender in Sachen esoterischer Lebensführung und liefert Gründe an den vermeintlichen Grundfesten des Lebens zu zweifeln. So mag der Abend manchem unliebsame oder altbekannte Erkenntnisse liefern: Dass der Himmel kein Sinnbild der Hoffnung mehr ist, sondern leer und eigentlich nur ein schwarzer , vernichtender Blitz. Dass jeder "normal" erscheinende Mensch nur einen Bruchteil vom Verrücktwerden entfernt ist. Dass die persönlichen Überzeugungen jedes Einzelnen ihm zwar stabil erscheinen mögen, aber sie letztlich nur ein einsamer kleiner Felsen im weiten Atlantik sind.

Birgit Schmalmack vom 26.9.02