Reise ohne Wiederkehr

Auch zum Frühlingsbeginn und fast anderthalb Jahre nach der Premiere sind die Reihen bei John Neumeiers Interpretation der Winterreise gefüllt. Die zum Teil enttäuschten Reaktionen bei der Erstaufführung sind anscheinend verwunden. Denn Neumeier serviert hier keine leichte Kost. Passend zu der modernen Neubearbeitung von Hans Zender des Liederzyklus' von Schubert, die zu den ursprünglichen Wohlklängen etliche irritierende Töne beisteuert, findet der Choreograph eine ähnliche sperrige Tanzsprache. Sie erzählt - ohne sich in Geschichten zu verlieren - von dem Unbehaustsein der Menschen auf der Erde. Sie befinden sich in einem Übergangsstadium, neigen es aber zu vergessen und lieber der vermeintlichen Dauerhaftigkeit zu glauben. Dieser Abend weist auf die gern verdrängte Vergänglichkeit alles Lebens hin. Neumeier versagt es sich folgerichtig, dem Wunsch nach allzu Schönem und Gefälligem nachzugeben.

Ein Junge ( Guido Warsany schafft es die geniale Erstbesetzung Yukichi Hattori durch eigene Akzente fast vergessen zu machen) in einem übergroßen Pullover, ausgeleierter Jogginghose, Brille und tief ins Gesicht gezogener Fellmütze irrt durch die kahle, kalte Winterlandschaft. Immer wieder begegnet er anderen Menschen und versucht die Kontaktaufnahme mit ihnen, doch genauso schnell wie sie gekommen sind, verschwinden sie wieder in der Kälte. Schicke Männer in Frack und Spazierstock begegnen ihm ebenso wie ein Mann im Rockeroutfit. Da wirbelt eine Frau mit der roten Baskenmütze an ihm vorbei oder das zarte Mädchen ganz in schwarz hetzt mit ihm ein paar Mal die Treppe hinauf, die in Nichts führt. Zwei in Ledermänteln gegen die Kälte geschützte Damen kommen mit ihren zwei Begleitern vorbei, laufen aber schnell wieder auseinander. Auch ihr vermeintlich geruhsamer Spaziergang ist nicht von langer Dauer. Ein geheimnisvoller, schwarzer und völlig schweigsamer Herr mit Regenschirm irrt von Zeit zu Zeit über die schneebedeckte Bühne.

Yannis Kokkos hat ein wunderbar zurückhaltendes Bühnenbild geschaffen, dass auf der doppelten Rückwand die schwarz-weißen Porträts der Tänzer im Laufe ihres Lebens zeigt. In dem Grau in Weiß erlaubt er nur ein paar Akzente durch blaue Leuchtstoffröhren, die ab und zu die Form eines Hauses erkennen lassen. Die Bühne hat er über den Orchestergraben nach vorne verlängert. So ermöglicht er die Gleichzeitigkeit der Momentaufnahmen.

Ein Bild ragt in seiner Eindrücklichkeit aus diesen Mosaikkunstwerk heraus: Zu der Szene "Im Wirtshaus" wird eine große Glasscheibe auf die Bühne heruntergelassen. Hinter ihr sammeln sich lauter schwarz gekleidete Reisende mit Koffern in der Hand. Auf der anderen Seite schiebt ein breitbeinig aufgestellter Aufpasser Wache. Doch dann lehnen die Menschen sich gegen die Scheibe und bringen sie zum Kippen. Der Wachmann stemmt sich mit aller Kraft zur Stabilisierung dagegen. Plötzlich fallen die schwarzen, jämmerlichen Gestalten in sich zusammen und rollen alle von der Scheibe herunter in den Schnee. Ihre Reise, bei der sie noch einmal aufbegehren und das Ziel mitbestimmen wollten, hat ein unwiederbringliches Ende gefunden.

Birgit Schmalmack vom 18.03.03