Love Letters


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Abendblatt im Ernst Deutsch Theater



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Die Briefe sind schuld

Melissa und Andrew kennen sich seit ihrer Kindheit. In wohlversorgte Kreisen der amerikanischen Upper-Middle-Class sind sie nebeneinander aufgewachsen und haben sich doch in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Diese Unterschiedlichkeit hat sie gleichzeitig aneinander gebunden und voneinander getrennt. Sie überbrückten sie mit Hilfe einer fast fünfzigjährigen Brieffreundschaft, die alle sonstigen eingegangenen Beziehungen überlebte. Sie erhielten sich ihre beständigen Gefühle füreinander, da sie sie im Alltag nicht strapazierten. Die Sehnsucht nach der eventuellen Erfüllung gedieh aus der Ferne noch einmal so gut. So sind einerseits die Briefe daran schuld, dass sie nie zueinander finden konnten, weil sie stets ein Bild von einem Menschen zeichneten, das in Wirklichkeit so nicht existieren konnte. Und andererseits machten sie überhaupt einen dauerhaften Kontakt zwischen diesen völlig verschiedenen Menschen möglich.

Melissa ist in ihrem Zweiergespann die kapriziöse, impulsive, messerscharf formulierende, sarkastische Künstlerpersönlichkeit, die ihren Briefpartner gerne mit schnodderiger und vulgäre Sprache provoziert. Andrew stellt sich dagegen als einen rechtschaffenen, zuverlässigen, pflichtbewussten Bürger dar, der ehrgeizig seine Juristen- und Politikerkarriere verfolgt. Diese zwei so verschiedenen Königskinder, die zueinander nicht finden können, geben sich durch ihre beständige Freundschaft den Halt und den Ausblick in eine Alternative, den sie brauchen. Melissa lehnt zwar die spießige Haltung Andrews grundsätzlich ab, aber lernt im Laufe ihres konfliktreichen, chaotischen Lebens mit dem Hang zum vermeintlichen Tröster Alkohol die Vorzüge seiner wohlgeordneten Lebenseinstellung zu schätzen. Er dagegen fürchtet sich insgeheim vor ihrer alles hinterfragenden Haltung und schützt sich durch ausreichende Distanz. Als Ehegefährtin sucht er sich lieber eine zurückhaltendere, genügsamere Frau, die seine politischen Ambitionen nicht mit zu befürchtenden rebellischen Aktionen boykottierten. Als Ab- und Zu-Geliebte greift er gerne auf die immer noch den Reiz des Besonderen versprühende Melissa zurück. Sein spätes Geständnis, das er Melissa schon immer geliebt hätte, wagt er erst nach ihrem Tode in einem Brief an ihre Mutter, als er sich keiner realen Überprüfung mehr stellen muss.

Die energiegeladene Monica Bleibtreu und der distinguierte Helmut Multzer sind eine ideale Besetzung für das Briefdrama von A. R. Gurney "Love Letters", das in den Kammerspielen für zufriedene Gesichter im Publikum sorgt. Als szenische Lesung an einem langen Tisch, der frontal zu den Zuschauerreihen auf der leeren Bühne aufgebaut ist, bleibt viel Raum für die Fantasie, die die beiden Lebensgeschichten während der zwei Stunden im Kopf entstehen lässt. Ganz ohne weitere Effekte kommen die beiden Schauspielerpersönlichkeiten mit ihrer einfühlsamen und ausgefeilten Darstellung aus. Alleine durch beredte Schweigeminuten zwischen ihren Briefen und Postkarten setzen sie aussagekräftige Kommentare.

Birgit Schmalmack vom 7.12.03