Transplantierte Erinnerungen und Gefühle

Die heutige Form der Revolte ist die Selbstzerstörung, erkennt Heidi Hoh (Nina Kronjäger) in der 3. Folge ihrer Selbsterkenntnistour von Rene Pollesch. Schließlich ist der Arbeitgeber, der sie unterdrücken könnte, sie selbst. "Der Betrieb bin ich", erkennt sie messerscharf. Als Selbstständige, die 24 Stunden online ist und somit rund um die Uhr für ihre Firma tätig sein kann, ist der Selbstausbeutung keine Grenze mehr gesetzt. Diese Dauerarbeiterin, die schon fast zum Display ihres Computers mutiert ist, braucht keinen Chef mehr, der sie treibt; das erledigt sie alles im Namen der Selbstverwirklichung durch die kreative Arbeit in Eigenregie. Soziale Beziehungen sind aufgrund von extremem Zeit- und Energiemangel nur noch als Dienstleistungen zu erkaufen. So kommt es, dass der freundliche Kellner soviel Verständnis für die Ernährungsprobleme von Heidis Alter Ego Bambi Sickafossee (Christine Groß) aufbringt, dass er wie ihr vertrauter Lebenspartner wirkt. Gong Scheinpflugva (Claudia Splitt) bekommt ihre Erinnerungen von Filmen implantiert und gerät in Verwirrung, was an ihr denn noch natürlich und was künstlich sei. Gefühle beziehen die drei Mitdreißigerinnen von Schallplatten. Direkt an den Plattenspieler oder an Napster angeschlossen, können sie sich Euphorie, Romantik oder Depression herunterladen, ganz wie sie es im Moment gebrauchen können.

Durch den Wörter-Floskeln-Fleischwolf von Rene Pollesch gedreht kommt ein Satzbrei heraus, aus dem sich merkwürdigerweise am Ende ein Inhaltsextrakt ziehen lässt. Die Produktion vom Berliner Podewil führt - unter der Regie des Autors höchstpersönlich - in bewährter Art das Lebensgefühl einer New Economy Generation vor, die stets auf der Suche nach dem Neuen Markt ist und dabei sich selbst verliert.

Durch die "www-slums" und "Der Kandidat" am Schauspielhaus mit aufwendig-verspielter, liebevoller und detailreicher Dekoration und amüsant-selbstironischer Darstellung durch die Hamburger Schauspieler verwöhnt, muss diese schlichtere, statische Inszenierung in ihrem Eindruck hinter den Inszenierungen im kuscheligen Rangfoyer zurückbleiben. So kann man sich auf den Text von Pollesch unbeeinflusst von allzu viel Beiwerk konzentrieren. Und der ist auch nach der wiederholten Variation noch immer hörenswert.

Pollesch' Art mit Sprache umzugehen und daraus Theater zu machen ist gleichzeitig das Thema seiner Stücke. So wie er durch die Satzbrocken zappt, zappen sich seine Prototypen durch ihr Leben. Immer auf dem Sprung nach dem nächsten Trend scheint ihre Gedanken-Halbwertzeit bei einer halben Minute zu liegen. So geben ihre Bandwurmsätze erst in ihrer Gesamtheit etwas von ihren Inhalten preis. Position beziehen solche Menschen, die ein streng reguliertes Denken von ihrem Computer gelernt haben und für ein bisschen Deregulierung und die nötige Kreativität ein paar Drogen einwerfen müssen, naturgemäß nie. Widersprüche sind ein Teil ihres Lebens. Oder wie Bambi meint: "Ihr meint, ich widerspreche mir in diesem Punkt, dann kommt erst mal zu mir nach Hause: Ich lebe in Widersprüchen."

Birgit Schmalmack vom 2.11.02