Der Verwaiser


www.hamburgtheater.de vom 11.10.03

Philosophiestunde über den Nihilismus

Es hält sich hartnäckig ein Gerücht, dass es einen Ausweg gäbe - aus dem 50 mal 16 Meter großen Gummi-Zylinder, in dem die Menschen in Becketts Prosatext "Der Verwaiser" gefangen sind. Sechs Probanten hat Dimiter Gotschef fim Thalia in der Gaußstraße in die sandfarbene Arena (Bühne: ) geschickt und sollen nun sich (und den Zuschauern) versuchen die außergewöhnliche Versuchsanordnung zu erklären. Gotscheff belässt sie klugerweise in der Welt der gedanklichen Experiments und kann so spielerisch alle Absurditäten der allegorischen Sinnbildes auskosten. Dazu stehen ihm sechs wunderbare Sprachspieler zur Verfügung, deren Figuren aus Becketts Stücken entliehen sein könnten.

So lesen sie den Beckett-Text, führen ihn ständig als zerknitterte, viel studierte Blättersammlung mit sich, jeder auf seine Art: die Diva im Abendkleid (Almut Zilcher) in ihrem reichhaltigen Dekollté, die feingemachte Dame im Tupfenkleid (Christa Müller) in ihrem Handtäschchen, der Zirkusdirektor im heruntergekommenen Cut (Helmut Mooshammer) mit Vorliebe als zusammengedrehte, handliche Rollen. Gesetzmäßigkeiten, die das Leben im Zylinder mit seinen Leiter, bei denen in unharmonischen Abständen Sprossen fehlen, den zu erklimmenden Nischen und der Jagdarena in der Mitte bestimmen, werden in allen Einzelheiten im Text beschrieben. Die wissenschaftliche Akribie der Darstellung entsprechen die Vorlesenden mit einer Ernsthaftigkeit, die dann immer wieder in Absurd-Komische kippen muss, wenn einem der Sechs nur noch das Fragezeichen ins Gesicht geschrieben steht. So erleichtert diese Solidarisierung mit dem Publikum ihm den Zugang zu der Beckettschen Endzeitvorstellung.

Da erläutert die Zirkusartistin (Doreen Nixdorf) virtuos und gestenreich die Lichtschwingungen und Temperaturschwankungen und ihre überaus diffizilen Auswirkungen auf die Zylinderbewohner. Trotz aller größter Mühe hat Frau Müller Probleme ihr in den komplizierten Wechselwirkungen zu folgen. Mooshammer lässt seine Schwalbenschwänze fliegen und lässt spontan eine praktische Demonstration folgen, bei der ihm der Clown mit den überlangen Hosenträgern (Asad Schwarz-Msesilamba) assistiert. Der wortkarge Turnschuh- und Wollmützenträger (Jörg Pose) steuert eh nur noch ein "Jaah?" oder "Ach..." bei.

Das anfängliche Gerücht über den möglichen Ausweg aus diesem Martyrium vermutet ihn einmal in einem Tunnel, gleich darauf in einer Klapptür an der Deckelmitte des Zylinders. Nachdem erstere Theorie durch umfangreiche Erforschung des Zylinders hinfällig geworden ist, bleibt nur die letztere. Doch um diesen als unerreichbar geltenden Bereich des Zylinders erkunden zu können, bedürfte es unmenschlicher Anstrengungen: In einer Aktion der geeinten Brüderlichkeit müsste ein starkes Team gemeinschaftlich Leitern in eine so stabile Position bringen, dass ein Mutiger bis zum Deckel klettern könnte. Der lapidare Kommentar des Wollmützenträgers: Nur wenn es um Gewalt geht, sind die Zylinderbewohner zur Gemeinschaft in der Lage.

So hält sich die Absurdität der ethnologischen Studien von Beckett über das Leben der menschlichen Ameisen leider in Grenzen und bietet durchaus Möglichkeiten des Wiedererkennens. Ein philosophischer Abend, der sich gängigen Erwartungen an Theater entzieht und sie gerade dadurch brillant erfüllt.

Birgit Schmalmack vom 11.10.03


Abendblatt 13.09.03

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