Aus dem Nest gefallen

Gundula ist eine junge und recht eigenwillige Frau. Das verrät schon ihre Kleidung. Den Jeansrock ohne Bündchen trägt sie meist verkehrt herum. Bei auftretenden Unsicherheiten verwandelt sie ihn mit einer kurzen Drehung zum konformen Kleidungsstück. Ihre Bluse ist zwar etwas weniger wandlungsfähig, zeigt aber ebenso ihre Zweigespaltenheit: Oben ganz hochgeschlossen öffnet sie sich zu einem großzügigen Dekolleté. Aus ihren Hosentaschen zieht sie von Zeit zu Zeit eine Zigarette heraus, um genüsslich an ihr zu riechen und sie dann in kleine Stücke zu zerbrechen. Von dem Obdachlosen Tomasz und dem jugendlichen Junkie B. lässt sie sich weder durch Vorträge über das Distanzverhalten der Menschen noch durch coole Sprüche beim Anpumpen beeindrucken. Erst als ganz zufällig PI (Felix Lampe) - ihr Exfreund und Mathe-Student Peter - auftaucht, wandert ihr Rock immer rundherum und sie zerbricht nur noch jede zweite Zigarette. Ihre selbstsichere Fassade fängt an zu bröckeln.

Der clean durchgestylte Platz der fernen Sehnsüchte, den Kristo Sagor als Treffpunkt all dieser Menschen für sein Stück "Durstige Vögel" auswählte - der Flughafen -, ist für Gundula ein trauriger Platz der Erinnerung an ihr erstes zerpflücktes Nest der Geborgenheit. Hier kam vor einem Jahr ihr Vater von einer Operation aus den USA an und verstarb beim Landeanflug an einem Herzinfarkt. Ihre Mutter liegt seitdem völlig verwirrt auf der Intensivstation. Der vorbeispazierende PI symbolisiert das zweite zerbrochene Nest. Zu groß wurden für den smarten, klugen Aufsteiger die Probleme der angeknacksten Gundula, die nicht nur beim Rauchen, sondern auch in Fress- und Brechattacken einen Ausweg suchte. An den Sex erinnert sich Peter allerdings gerne, und das nicht nur theoretisch. Nach Gundulas bewährter Entsorgungsmethode der vielen Riegel aus dem Flughafenautomaten auf dem Klo gibt es ein kurzes Rock hoch/Hose runter aus alter Gewohnheit, während die neue gesellschaftsfähigere Freundin (Anne Schieber) immer noch mit ihrem Gepäck auf ihren treusorgenden, menschenfreundlichen Lebensgefährten wartet, der sich so gerne um all die Frauen kümmert, die ihn seiner Aussage nach zum Leben brauchen. Man vermutet sofort, dass die Beiden auf dem Flughafen nicht die einzigen sein werden.

Unter der zurückhaltenden Regie von Dieter Boyer können die fünf Schauspieler auf dem grau-tristen Rollfeld im Foyer des Altonaer Theaters mit ihrem Können brillieren. Sie erwecken die Figuren im Laufe des Abends zu Menschen, deren Geschichte bewegt. Sehenswert was Dirk Hoener und Milan Pesl aus den zwei Herumtreibern machen. Ein schüchterner Halbintellektueller im abgeschabten Anzug mit Schalkrawatte ist Hoeners Tomasz.. Pesl schafft es mit Leichtigkeit einen siebzehnjährigen Jungen in Gestik und Mimik entstehen zu lassen. Die Hauptdarstellerin Klaudia Jovanovic verkörpert die entwurzelte, verzweifelte Gundula ohne jede aufgesetzte Dramatik. Diese durstigen, aus dem Nest gefallenen Vögel lassen die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz, die ihre Fassaden und Haltepunkte zum Überleben braucht, nachfühlbar werden.

Birgit Schmalmack vom 24.6.02