Menschenknäuel aus Individualisten

Der am Konservativen interessierte Tanzrebell William Forsythe ist auf Einladung des Schauspielhauses nach 15 Jahren wieder einmal mit einigen seiner Choreographien zu Gast in Hamburg. Auf Kampnagel zeigte er vier kürzere Stücke mit seiner Compagnie des Ballett Frankfurts. Als verbindendes Element tauchen bei allen zwanzig einfache rechteckige Metalltische mit Holzplatten auf. Mal dienen sie als Leseplätze, mal als Holzwand und mal als verschiebbare Tanzpodeste.

Der Abend zeigte unterschiedliche Ansätze Forsythes und begann sehr konzentriert mit "7 to 10 Passages" im Zeitlupentempo. Wie eine Wand bewegen sich die fünf Tänzer langsam zum flirrenden Klangteppich von Thom Willems auf das Publikum zu. In sehr sparsamen Einzelbewegungen dehnen sie jede Muskelanspannungen auf Sekundenlänge aus. Zusammen mit dem Text der vier Sprecher sprechen sie von den Mühen der Menschen, die gegen alle Widerstände ihres Körper und ihrer Überlegungen sich um den langsamen kriechenden Fortschritt bemühen müssen. Während die Tänzer sich mühevoll fortbewegen, kommt eine sechste Tänzerin auf die Bühne, die noch zu den wirbellosen Wesen gehört und immer wieder in sich zusammenknickt.

Die drei weiteren Stücke beleuchten dann das Treiben der Menschen ohne die quälenden Hinterfragungen. Die Menschen befinden sich in ständiger Aktion, die keine Zeit für die Fragen nach dem Sinn lässt. In "The room as it was" geschieht das zunächst ohne Musik vor einer Stellwand, die den Aktionsraum auf die Hälfte verkleinert. In immer wieder veränderten Konstellationen aus zwei bis vier Tänzern zeigen sie, wie die Menschen sich gegenseitig beeindrucken, manipulieren, auf Abstand halten, mit- und gegeneinander agieren können. Ohne den Anderen können sie nichts machen, aber mit dem Anderen scheinen sich ebenfalls keine gemeinsamen Ziele zu ergeben.

Diese Studien der zwischenmenschlichen Beziehungsmöglichkeiten werden in "Double/Single" weitergeführt. Nun auf zwei Matratzen vor der Stellwand. Man wird Zeuge von Dreiecks/Vierer- oder auch Pärchengeschichten, die sich auf den zwei Betten zutragen. Mit Sinn für Witz und Dramatik entstehen die Abläufe von Macht und Ohnmacht, von Über- und Unterlegenheit. In Verwicklungen agiert jeder für sich. Kaum werden die Mitspieler eines Blickes gewürdigt. Dabei sind sie nie vor kleinen subversiven Attacken des Anderen sicher. So kann ein Mann schon mal den Kopf seiner Gespielin kurz unter die Matratze stecken, um die trügerische Harmonie zu stören. Dazu ergießt sich die Musik in fließenden, klassischen Geigenklängen von Bach.

Die letzte Etappe des Abends "One flat thing, reproduced" führt vom überschaubaren Innenraum in die hektische Umgebung einer modernen Großstadt. Wieder sind die Tische die Grundlage des Bühnenbildes. Sind sie zunächst nur in der Draufsicht als hintereinander aufgetürmte Hürden zu sehen, werden sie später - von den 20 Tänzer lautstark nach vorne gezogen - gleichsam zu Symbolen für Häuser, Arbeitsstätten oder Konventionen. Fallen die Menschen bei ihren schweißtreibenden Aktivitäten im Leistungstempo der technisierten Moderne durch das Raster der Anforderungen, landen sie am Boden unter den Tischen. Doch nicht lange dürfen sie dort verweilen, schnell werden sie wieder nach oben gezogen und müssen weiterackern, rutschen, springen, schieben und tanzen. Dazu dröhnt hämmernde, pfeifende Maschinenmusik.

Forsythe zeigt meisterhaft die gegenseitige Abhängigkeit des Menschentreibens. Gleich einem Ameisenhaufen wuseln sie wie kleine Tiere umeinander, ohne sich über die Richtung und das Ziel ihres Handelns Gedanken machen zu können. Ohne sich auf dabei auf den anderen zu beziehen, beeinflussen sie sich doch ständig in ihrem Tun und ihren Gestaltungsräumen. Scheinbar gedankenlos und zufällig greifen sie in das Leben des Anderen ein, üben mal Macht aus oder werden mal unterdrückt. Menschenknäuel wabern umeinander in ihren Zivilisationshaufen und glauben doch alle an ihre Individualität und Einzigartigkeit.

Birgit Schmalmack vom 23.6.02