Ich suche die Schildkröte in mir...

Wie funktioniert die Erinnerung eines Menschen? Welche sind die frühesten Eindrücke, an die er sich später noch entsinnen kann? Welche speichert er als besonders beeindruckend? Wie sehr sind sie von späteren Erlebnissen in der Rückschau beeinflusst? All diesen Fragen versuchten die Regisseurinnen Crescentia Dünsser und Martina Döcker in ihrem Dokumentarfilm "Mit Haut und Haaren" nachzuspüren. Aus ihrem Filmmaterial schuf der Theatermacher Otto Kukla mit "Memory" eine Umsetzung für die Bühne. Als Gastspiel des Theaters Neumarkt aus Zürich wurde sie im Rahmen des Festivals Laokoon auf Kampnagel gezeigt.

Drei über neunzigjährige Frauen erzählen von einigen Erinnerungen aus ihrem langen Leben. Sie erinnern sich an das erste Spiel, an den ersten Kuss, an ihre Aufklärung, an Kriegserlebnisse, an leckere Kuchen u.v.m. Mit dem Kunstgriff, ihre Lippenbewegungen von drei jungen Schauspielern synchronisieren zu lassen, schafft Kukla interessante Effekte. Die zwei Frauen und der Mann müssen sich ganz auf die persönliche Note der drei Damen einlassen. Sogar ihre fremde Atmung müssen sie übernehmen, ihre kleinen Gesten beim Sprechen. Sie scheinen sich durch diese Technik ganz in die alten Personen einzufühlen. Zum einen löst Kukla so das Erzählte von der speziellen Lebensgeschichte der Frauen ab, macht es übertragbar auf folgende Generationen und zum anderen schafft er so die Möglichkeit zur Distanzierung und Infragestellung der subjektiv beeinflussten Erinnerung.

In einigen Sequenzen kommen die Damen mit ihren eigenen Stimmen zu Wort. Erstaunlich, wie lebendig und vital sie klingen. Sie stehen in ihrer geistigen Lebendigkeit den Jungen in nichts nach.

Hilfestellung zum Brückeschlagen zwischen den Generationen liefert auf faszinierende und virtuose Weise die Musik von Harald Bluechel, die er für das AMAR-Quartett geschrieben hat. Die vier Geiger/innen breiten in immer wieder leicht veränderten Wiederholungen einen tragenden Klangteppich unter dem Gezeigten aus, der den Lebensfluss symbolisiert. Mal fließt er träge dahin, dann wieder wird er hektisch aufwühlend.

Kukla macht mit seinem unaufwändigen, stimmigen Konzept und den hervorragenden Schauspieler, die sich nie in den Vordergrund spielen sondern stets Mittler bleiben, Lust auf eine Erinnerungsreise ins eigene Gedächtnis.

Birgit Schmalmack vom 31.8.02