Die Möwe


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Theater der neuen Form?

Tschechow bürgt normalerweise für gepflegtes, niveauvollesTheater, in dem das alltägliche Leben von allen Seiten in Frage gestellt wird, in dem stundenlang neue revolutionäre Ideen diskutiert werden und dem schließlich konstatiert wird, dass ohnehin alles beim Alten bleiben wird, egal wofür man sich entscheidet.

Dieses Erwartungsmuster wollte Stefan Pucher in seiner Inszenierung der "Möwe" für das Schauspielhaus durchbrechen. Gelungen ist ihm dies in mehreren Punkten. Einmal verweigert er den meisten der zehn mitwirkenden Personen eine Ausgestaltung ihrer Charaktere. Sie bleiben seelenlos und wirken wie Statisten in ihrem eigenen Leben.

Dann gibt er ihnen kein erwartetes ländliches Idyll als Hintergrundkulisse, in der die Alltäglichkeit dahintröpfeln kann. Die Bühnengestaltung von Barbara Ehnes zeigt entweder die leere Bühne des Schauspielhauses oder eine große schwebende Projektionsfläche über einem vereisten See.So erlaubt Pucher einen anderen Blick auf diese sentimentale Geschichte.

Kostja (Alexander Scheer) will sich von seiner Mutter, der bekannten Schauspielerin Arkadina (Sabine Orleans), emanzipieren. Er versucht sich als Theaterschriftsteller. Doch sein aufgeführtes Stück entbehrt jeder Handlung und agierenden Personen. Es gleicht mehr einer "Publikumsbeschimpfung", in der er fordert, dass das Theater neue Formen und neue Zuschauer brauche. Für die einzige Rolle in seinem Stück engagiert er Nina (Sarah Masuch).

Pucher benutzt für dieses Stück im Stück folgerichtig die Bühne des Schauspielhauses selbst. Die Schauspieler sitzen in den Logen und schauen der deklamierenden Nina auf der Bühne zu. Kostja wollte mit diesem Auftritt mehrere Zwecke erfüllen: nicht nur seine Mutter beeindrucken und sie provozieren, sondern auch Nina, die er liebt, imponieren. Doch er scheitert in allen Punkten.

Nina ist eher von gestandenen und schon berühmten Männern beeindruckt. Der Freund der Mutter von Kostja hat es ihr angetran. Als er ihr Avancen macht, verschmäht sie Kostja und geht mit ihm in die Stadt. Doch die Beziehung bleibt oberflächlich und zerbricht schließlich. Als sie auf das Land zurückkehrt und Kostja ein weiteres Mal ablehnt, erschießt dieser sich.

Diese dramatischen Szenen werden fast abstrakt, protokollarisch vorgetragen. Die meisten Personen bleiben blass und ohne Tiefgang. Dafür kommen zwei Charaktere umso mehr zur Geltung. Dieses Stück lebt von der Darstellungskraft des jugendlichen Alexander Scheer und der matriarchalischen Sabine Orleans. Selbst Nina als Titelheldin "die Möwe" bleibt im Hintergrund und darf mehr durch einen schönen Rücken als durch überzeugende Verkörperung ihrer Rolle entzücken.

Wollte Pucher die Forderung von Kostja erfüllen und den Zuschauern hier ein Theater der neuen Form präsentieren? Gezeigt hat er in überzeugenden Art und Weise, dass die meisten Personen bei Tschechow nie etwas in ihrem Leben ändern werden, weil sie nur Zuschauer ihres eigenen Lebens sind. Sie verlassen ihre Logenplätze nur, um ein paar Runden auf Schlittschuhen innerhalb ihres vorgeschriebenen Lebensrahmens zu ziehen. Niemand traut diesen resignierten Figuren Initiativkraft zu. Dies wird durch diese Inzszenierung sehr deutlich klargemacht.

Ebenfalls logisch ist, dass Scheer seiner Rolle mehr Esprit geben darf: Er ändert rigoros sein Leben, imdem er ihm ein Ende setzt. Zwar kann seine Mutter ihr Leben nicht nachhaltig beeinflussen, doch sie versucht es zumindestens immer wieder, ihre Macht auszuüben. Und einer solch gewaltigen, präsenten Schauspielerin wie Sabine Orleans kann selbst diese Iszenierung keine Zügel anlegen.

Kritik von Birgit Schmalmack vom 9.12.00