ECHT - Migrationsformate


Landschaften

www.hamburgtheater.de

Blumen in der Hölle

Das Programm des Festivals "ECHT - Migrationsformate" auf Kampnagel ist breit aufgestellt: Konzerte, Parties, Lecture-Performances, Installationen, Filme, Theater und Vorträge.

In der ersten Video-Installation erzählt Gerald Asamoah von seinem Weg als erster Farbiger in die deutsche Nationalmannschaft Die zweite Installation von Tatjana Marusic zeigt mit Hilfe von Familienbildern, wie sich Veränderung vollzieht. Drei parallele Projektionen überblenden sich kunstvoll in stetiger Veränderung. So wird sie ihrem Titel gerecht: "Es geht ja langsam, also hat man Zeit sich daran zu gewöhnen." Sind die Familienmitglieder zu Beginn in Kroatien alle schwarzhaarig, mischen sich in die letzten Bilder aus der Schweiz auch Blondschöpfe.

Dann steht Dokumentartheater auf dem Programm: "Landschaften Synchronisation der Fluchtwege".

"Die ein, zwei Jahre vor dem Krieg waren die besten." Da sind sich alle drei einig. Das Abitur in der Tasche, das Studium begonnen, die Gesellschaft vom Kommunismus befreit, die Parties konnten beginnen. "Da haben wir gelebt!" Genau diese Euphorie ließ die Vorahnungen eines drohenden militärischen Konfliktes in unwahrscheinliche Ferne rücken.

Wann begann der Krieg? Als es den Lippenstift Charmant Nr.17 nicht mehr zu kaufen gab, als plötzlich Freunde verschwanden, als sich die Menschen auf einmal veränderten, als es Eier nur noch auf der Straße zu kaufen gab? Die Blumen wuchsen in der Hölle Sarajewos in diesem Frühjahr ohne menschliches Zutun und ohne Nutzen. Essen konnte man sie nicht.

Nach dem Dayton-Abkommen ist die Rückkehr nach Ex-Jugoslawien für alle der Test: Bin ich verrückt geworden oder habe ich meine Flucht einigermaßen normal überstanden? Die Rückkehr nach dem Zuhause im Exil wird zur nächsten Nagelprobe: Welche Identität (er)finde ich für mich?

Die drei Künstler Branko Simic, Jons Vukoreb, Vernesa Berbo sind alle auf verschiedenen Wegen aus Sarajewo geflohen. In Hamburg haben sie sich wieder getroffen. In ihrem ersten gemeinsamen Projekt "Landschaften" sind sie gleich doppelt zu sehen: einmal live aufgereiht vor der Leinwand im Hintergrund und einmal auf der Projektionsfläche im Hintergrund. Sie berichten von ihren Erinnerungen an den Krieg, die Flucht und das Exil - in der Aufzeichnung auf Jugoslawisch, live in der Simultanübersetzung auf Deutsch.

Eingeblendete grau-weiße Landschaftsaufnahmen mit leichtem Rotstich, die einem alten Fotoalbum entnommen sein könnten, sorgen zwischen den zusammen geschnittenen Erinnerungssequenzen für Denkpausen.

Den drei gelingt es, mit minimalen Regiemitteln große Wirkung zu erzielen. Sie schaffen das ohne jeden Betroffenheitsgestus, aber mit viel distanziertem Witz. Die drei Künstlerpersönlichkeiten rühren sich über eineinhalb Stunden nicht vom Fleck und dennoch entführen sie mit ihren Erzählungen in eine Welt, die in Hamburg 2011 ebenso unwahrscheinlich wirkt wie in Sarajewo 1990 - eine ziemlich beunruhigende Erkenntnis einer sehr interessanten Inszenierung.

Birgit Schmalmack vom 7.1.10