meantime, cie.toula limnaios

Miniaturen im Museum des Menschlichen

Die charmante Stewardess führt ihr kleines Erklärungsballet mit großer Anmut vor. Sie unterstreicht ihre Anweisungen nicht nur mit graziler Gestik und ausdruckstarker Mimik sondern mit ihrem ganzen Körper. Denn die Spielzeitneuöffnung der HALLE unterliegt dieses Jahr besonderen Bedingungen. Da die Zuschauer*innen und Tänzer*innen stets auf Abstand bleiben müssen, zeigt „cie.toula limnaios“ mit ihrer ersten Premiere „meantime“ Miniaturen als Wanderung durch drei verschiedene Stationen der Tanzbühne im Prenzlauer Berg.
Sie beginnt im Garten. Hier sind Bambusstangen aufgestellt, die die Standorte der einzelnen Zuschauenden markieren. Die Stimme eines Museumsguides macht auf die Sehenswürdigkeiten, die hier zu bestaunen seien, aufmerksam. Er weist auf antike Stauen, kunstvolle Reliefs und Malereien hin, die jeweils neue Epochen eingeleitet hätten.
Auch die Zeit des Lockdowns war eine Zwischenzeit, die ein neues Hinschauen auf die Bedingungen des Menschseins ermöglichte. Genau dafür nutzte sie die Choreographin Toula Limnaios mit ihrem Ensemble. Sie will, wie sie im Programmheft erklärt, „sich auseinandersetzen, sich reiben – alles, was uns menschlich macht – erstaunen und weiter daran arbeiten, was uns in diesen schwierigen Momenten berührt und verwandelt.« In ihren „Arts vivants“ zeigt sie mit ihren Tanzkünstler*innen Miniaturen des Menschlichen und lenkt so den Blick auf das, was uns ausmacht.
Die individuelle Arbeitsform, die während der Corona-Zeit notwendig wurde, gab der intensiven Konzentration auf die Künstlerpersönlichkeit jeder Tänzer*in den eigenen Raum. So kann die besondere Ausstrahlung und Kraft jedes Tänzers in den sechs Soli und einen Duett zum Ausdruck gelangen. Die Musik, die Ralf R. Ollertz dafür komponierte, ist ein kunstvolles Arrangement aus Tönen, Melodien, Sprache und Klängen, die die jeweilige Atmosphäre intensiviert.
Im ersten Solo zeigt sich Alba de Miguel als eine Art mythologisches Vogelwesen. Aber an Fliegen ist hier nicht zu denken, zu schwer drückt die Last ihrer haarigen Flügel, die an ihrem Kopf befestigt sind und sie am Boden halten. So müht sie sich vergeblich ab, sich aus ihren Beschränkungen zu befreien.
Kontakt aufzunehmen, der dennoch den Abstand wahrt, probieren Francesca Bedin und Daniel Afonso in ihren Kampfritualen mit einem Bambusstab aus, der vermutlich genau die Länge von 1,5, Meter hat. Mal scheint die Eine, dann der Andere die Oberhand zu gewinnen. Mal sinkt die Eine getroffen zu Boden, mal wird der Andere kurz außer Gefecht gesetzt. Auch verbindende Phasen ermöglicht ihr Kampfspiel, schließlich gibt es stets eine Verbindungslinie zwischen ihnen. Auch ein Kampf ist eine Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. Zum Schuss fallen beide zu Boden, genau wie ihr Bambusstab. Ihr Kampf ist zu Ende.
In der Halle geht es weiter. Hier sind drei Podeste für weitere Studien des Menschlichen aufgebaut. Auf dem ersten wird nun die letzte Ankündigung des Guides wahr: Der Schmerz eines Menschen wird auf eindrückliche Art zur Darstellung gebracht. Ein Mann ist beim Kampf mit seiner erdrückenden Last des Lebens zu beobachten. Auf dem glitschigen Podest windet er sich nach Kräften, um endlich wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Doch jeder Halt ist ihm abhanden gekommen. Immer wieder gleitet er aus und fällt zu Boden. Selbst wenn er sich für kurze Momente wieder aufrichten kann, klatscht er kurz danach wieder auf das Podest nieder, das ihm keine Standfestigkeit bietet. Der Leidenskampf, den Leonardo d’Aquino hier zeigt, schmerzt schon beim Zusehen.
Das mittlere Podest zeigt eine ganz andere Entwicklung: Auch hier hat ein Mensch schwer zu tragen, doch dieses Mal an seiner Leibesfülle. Hironori Sugata kommt in einem aufgepumpten Ganzkörperanzug auf die Bühne, der ihm eine fast quadratische Form verleiht. Doch dieser Mensch will tanzen, als die Walzermusik von Sibelius erklingt. Tapsend erklimmt er das Podest, vorsichtig setzt er einen Fuß vor den nächsten, wagte einzelne kleine erhebende Schritte, bis er schließlich immer wagemutiger wird und zum Schluss fast Pirouetten dreht. Er hat es geschafft, sich über seine vermeintliche Schwere zu erheben. Doch nur solange bis ihm die zweite Stewardess (Toula Limnaios) den Stöpsel zieht. Da geht ihm die Luft aus und er sackt in sich zusammen.
Auf dem dritten Podest ist ein Schauspiel der stetigen Verwandlung zu beobachten. Obwohl Karolina Wyrwal nur zwei Hörner als Requisit zur Verfügung hat, kann sie sich in Sekunden von einer sanften Kuh zu einem aggressiven Stier, von der Beherrscherin einer Schlange zu einer niedergedrückten Schwanzträgerin, von einer abwartenden Aueröchsin zu einer wehrhaften Amazone verwandeln. Beeindruckend wie viele Assoziationen die Tänzerin zu wecken und ihre jeweilige Ausstrahlung komplett zu verändern versteht. Obwohl sie in ihren Möglichkeiten so eingeschränkt erscheint, beweist sie die Vielzahl der Gestaltungsmöglichkeiten, die sie mit einer winzigen Verschiebung erreichen kann.
Die Treppe hoch geht es ins großzügige Foyer, in dessen Mitte ein Schaukasten mit Wänden aus durchsichtigen Plastikplanen gesetzt ist, der den Blick auf zwei glänzende Wesen frei gibt, die am Boden scheinbar zu einem verschmolzen liegen. Wie unter Wasser bewegen sie sich mit rudernden Armen und Beinen aufeinander und kommen allmählich in die Horizontale. Bis Laura Beschi und Alessio Scandale schließlich einzeln auf ihren Beinen stehen können, durchlaufen sie eine lange Phase der Verschmelzung, in der sie sich stetig umeinander winden, so dass immer nur einer von ihnen den Boden berührt. Sie scheinen verschiedenen Formen der Entwicklung früherer Lebewesen zu durchlaufen. Von Quallen zu Fischen, Reptilien, Vierfüßlern bis hin zu ersten Zweifüßlern zeigen sie in einem auch ästhetisch faszinierenden Schauspiel die Entwicklungsstufen der Evolution.
So führen diese Studien im Museum des Menschlichen bei der letzten Station bis zu den Anfängen des Lebendigen zurück. „Schön dass uns diese Zeugen der Vergangenheit erhalten geblieben sind“, verkündet der Museumsguide zum Schluss. Dem kann man als Besucher*in der HALLE nur zustimmen.
Birgit Schmalmack vom 13.8.20


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