Selbstvergessen, DT

Wie ist es zu vergessen?


Was bleibt von einem Leben übrig, wenn alle Erinnerungen verschwinden? Selbst die daran, wer man selber einmal war? Sechs Jugendliche (Paula Aschmann, Greta Borg, Lasse Kühlcke, Noa Rosa Nrecaj, Dimitrije Parkitny, Nike Strunk) erinnern sich stellvertretend für ihre Großeltern. Denn ihnen kam ihr gelebtes Leben immer weiter abhanden, je weiter ihre Krankheit der Demenz fortschritt.
Zu Beginn tröstet sich Paula noch: "Das wird schon wieder, sicher nur eine Phase", doch dann ist es klar: Ihr Opa, bei dem sie in ihrer Erinnerung so paradiesisch schöne Ferien verbracht hatte, litt unter fortschreitender Demenz. "Ich wurde erwachsen, als ich feststellte, dass die Ferien gar nicht so schön waren." Als sie feststellte, dass auch ihre eigene Erinnerung sie trog. Doch bei Paula schärfte sich der Blick, je älter sie wurde, bei ihrem Großvater wurde er immer trüber. Genauso wie die Fensterscheiben auf der Bühne, die durch Wischen mit einem schmutzigen Schwamm immer trüber werden.
Lasse berichtet, dass er neuerdings immer öfter die Rolle seiner Oma übernehmen müsse. War sie es früher, die ihn als kleinen Jungen animierte: "Wolln wir mal in den Garten gehen?" So ist er es heute, der zu ihr sagt: "Wolln wir mal an die frische Luft gehen?" Wenn er sie später fragt: "Wie fühlt es sich an zu vergessen?", und dabei zu ihrer O-Ton-Antwort im nordisch eingefärbten Singsang synchron seine Lippen bewegt, dann übernimmt er sogar ihre Perspektive.
Nike zeigt die rückwärts laufende Uhr, die ihr Opa besaß, der solch skurrilen Dinge liebte, die in Übergröße auf der Rückwand linksherum tickt. Als sie sich dabei vorstellt, dass dann jeder Tod auch in eine neue Geburt münden müsste und so ein immerwährender Kreislauf entstehen würde, steht sie zwischen den Glasscheiben, auf denen sich Bilder von sich, den 12-jährigen Mädchen, und ihrem 80-jährigen Opa spiegeln und somit Jung und Alt zu einer Person werden..
Sechs Jugendliche haben sich mit dem Thema Demenz beschäftigt. Alle haben einen Großelternteil, der selbst davon betroffen ist. Ihre eigenen Erfahrungen, Gedanken, Traurigkeiten, Hoffnungen, Wünsche und die ihrer Großeltern finden auf der Bühne der kleinen Box im Deutschen Theater zwischen den verschiebbaren Glasscheiben Platz. Kunstvoll finden der Regisseur Gernot Grünewald und der Videokünstler Thomas Taube Texte, Szenen und Bilder, die behutsam von der Krankheit der abwesenden Großeltern erzählen. Immer wieder schieben sich die erzeugten Bilder und aufgezeichneten Projektionsflächen wie verschiedene Layer der Erinnerungen übereinander, mitunter verschwimmen sie bis zur Unkenntlichkeit, um dann wieder für einen Moment scharf gestellt zu werden. Zusätzlich lässt Taube Gitterstrukturen von 3D-Scans über die Kamerabilder flirren. Zuerst ähneln sie noch den Konturen des Opas oder der Oma. Doch so wie sich ihre Gehirnverknüpfungen immer weiter auflösen, so ordnen sich die Netzstrukturen neu an und immer undeutlicher werden ihre Umrisse im Laufe des Abends. Für noch stärkere Bilder sorgen die sechs Spieler*innen, als sie sich die lebensechten Silikonmasken ihrer Großeltern überstreifen und deren Kleidung anziehen. Wenn sie zum Schluss in dieser Verkleidung in stark verlangsamten Bewegungen mit Luftballons spielen, wirken sie wie um 60 Jahre gealtert. So kann ein würdevolles Einfühlen gehen.
Großartig wie Grünewald es geschafft hat, mit den sechs tollen Jungschauspieler*innen dieses schwierige Thema so sensibel und respektvoll umzusetzen. Zusammen mit der filmischen Arbeit von Taube ist so ein künstlerisches Werk entstanden, das aus dem Mangel der direkten Zuschauerperspektive aus einem Box-Theaterstuhl sogar einen Gewinn generieren konnte. Zusammen schufen sie eine neue Ästhetik, die an der Nahtstelle zwischen Theater und Film eine neue hybride Form entstehen ließ, die mit Überblendungen, Spiegelbildern, Verwischungen, Close-Ups, Ausschnitten und Verfremdungen arbeitete und damit perfekt zum Thema passte und dessen Eindringlichkeit noch verstärkte. Und dabei auch noch weit mehr Zuschauende erreichte, als an einem Abend in die kleine Box gepasst hätten. 450 Menschen waren dabei, als die Sechs ein zweites Mal ihr Stück live spielten.
Birgit Schmalmack vom 23.4.21


Selbstvergessen, DT Arno Declair

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