887, Schaubühne

Schicht um Schicht

Wie funktioniert Erinnerung? Ausgehend von einer Einladung zu einem Poetik Festival, auf dem er das Gedicht „Speak white“ vortragen soll unddaran scheitert es zu memorieren, nutzt Robert Lepage die Gelegenheit den Wegen der Erinnerungen nachzuspüren. In "887" entfaltet er dabei nicht nur das Bühnenbild zu immer neuen Tiefen und Einblicken sondern auch Zusammenhänge zwischen persönlicher, familiärer, gesellschaftlicher und geschichtlicher Erinnerung. Der Theatermagier verleitet sein Publikum ihm dabei in die verschlungensten Verästelungen des Gedächtnisses zu folgen. Immer wenn es scheint, als er sei er ein wenig vom Thema angekommen, legt er nur noch eine weitere Schicht frei. Dabei geht er so raffiniert vor, dass man ihm nur überrascht, verwundert und entzückt folgen kann.
Auf einer leeren schwarzen Bühne beginnt es mit Zahlen. Mit seiner ersten Telefonnummer, die er immer noch auswendig kann, und mit der Hausnummer der Familienwohnung in Quebec, die dem Abend seinen Titel gab. Als er die Bühnenwand antippt, dreht sie sich und ein Modell seines Kindheitshauses erscheint. Ein typisches Mehrfamilienhaus mit vielen französischsprachigen, wenigen englischsprachigen und einer einzigen Zuwanderer Familie. Als Lepage die einzelnen Parteien vorstellt, geht in den Appartements das Licht an und kleine Filme zeigen die Bewohner in Aktion. Mit scheinbar kleinen Handkniffen inszeniert er eine Theaterwelt die verführt und entführt. Sein an die Technik ausgelagerter Gedächtnisspeicher, sein Samrtphone, setzt er dabei mit leichter Hand ein. Ob für ein Telefonat mit einem Freund, ob für einen Blick in die Modellwohnungen, ob für eine Kamerafahrt im Wagen von Charles de Gaulle oder als Fernbedienung. Nach einer weiteren Drehung des Apartmentmodells verwandelt er es in seine eigene Küche oder die Feierabendbar seines Vaters. In den Pappkartons seines Familienarchivs lässt er die Wohnung entstehen, in der als Arbeiterkind bei Verwandten ein hollywoodeskes Weihnachtsfest verbringen durfte. Wie er dann in die Biografie seines ungebildeten, hart als Taxifahrer arbeitenden Vaters langsam die Fäden zur aufkeimenden Unabhängigkeitsbewegung Kanadas und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft entlang der Sprachengrenzen einspinnt, ist grandios. Bei ihm hängt alles mit allem zusammen. Bis er zum Schluss wieder bei seinem Ausgangspunkt landet: bei dem Gedicht „Speak white“. Natürlich schafft er es, das hochpolitische Poem perfekt auswendig vorzutragen und spannt damit den Bogen noch weiter. War die Forderung, die weiße Sprache zu benutzen ursprünglich an die indigenen Bewohner gerichtet, erstreckte sie sich bald auf die Frankokanadier, Englisch zu reden. Eine Metapher für Macht und Unterdrückung, die universell für alle diejenigen steht, denen ihr Recht auf Ihre eigene Sprache, Ausdrucksweise und Kultur abgesprochen wird.
Lepage zeigt in "887" dass es keine Trennung von Privaten und Politischen gibt. Das Persönliche ist politisch. Im Privaten spiegelt sich das Gesellschaftliche und umgekehrt. So strahlen ganz am Ende die Zuschauer:innen zwei große Scheinwerfer an. Als sie ein wenig abgedimmt werden, erkennt man zwei Autositze. Lepage sitzt mit seinem Arbeitervater in seinem Taxi und hält ein stummes Zwiegespräch mit ihm.
Birgit Schmalmack vom 10.4.22


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