Der Kanditat


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Erste Staatsbürgerpflicht: Konsumieren

Pollesch polemisierte in seinen www-slums noch hauptsächlich übers globalisierte Arbeitsleben, im "Kandidat" geht es ihm um Größeres. Die sogenannte Friedenspolitik der USA, die Homogenisierungsbestrebungen von Schill und Konsorten, die Abschiebungspraxis der Regierung, Schröders Wirtschaftspolitik sind jetzt Themen für seine Wutausbrüche. Zur Debatte steht immer wieder das oberste Gebot für den braven Staatsbürger zwischen dem bewährten Dreiergespann aus Caroline Peters, Cathrin Striebeck und Bernd Moss: Die Pflicht zum Konsum bei gleichzeitiger Selbstausbeutung, damit das Geld für selbigen zur Verfügung stehen kann. Seine Wortschmankerl und Widerstandsaufrufe prasseln auf die Zuschauer auf den plüschigen Sitzkissen im Rangfoyer unter einer exquisiten Sammlung von schönster Wohnzimmerleuchtern nieder. Nie waren vergessener Text oder Versprecher so vergnüglich wie hier. Bei jedem Haker schreit der nicht Betroffene der Souffleuse zu: "Hilf ihr nicht!" Die kontert ebenso lautstark: "Doch, hilf mir!" Gleich nachdem sie einander bitterböse Wahrheiten an die hübsch geschmückten Köpfe geworfen haben, fallen sie sich in die Arme und gestehen sich ihre ach so große Liebe.

Die Drei nutzen dieses Mal die exponierte Lage des Schauspielhauses, um ihre Worte mit Megaphonen immer wieder auf den Platz des Geschehens von Schillaktionen erschallen zu lassen. Schills Säuberungsbestrebungen des Bahnhofsplatzes dienen zur Ergüssen über die gewollte Homogenisierung der Innenstädte bei gleichzeitiger Wahrung der multikulturellen Folkloregruppen bei Stadtfesten. Die restaurierten Schlossfassaden der Konsumtempel mitsamt der Einschüchterungsarchitektur der Neubauten sollen die Menschen zur Hamburger Beute werden lassen. Wird derjenige, der nicht genügend konsumiert, bald als schlechter Staatsbürger, als Terrorist verhaftet? Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Menschen. Ihre "Innenstadt" müssen sie ebenso sauber gestalten, um dem Wirtschaftsleben die Stirn bieten zu können. Doch was macht man, wenn dein Leben, das nur noch Arbeit ist, eine Gewerkschaft gründet und in Streik tritt? Bei der äußeren inszenierten Konfliktfreiheit neigen sie dazu, sich ebenfalls stets restaurieren zu lassen, um sich mit 31 immer noch als 16 ausgeben zu können.

Pollesch erfüllt mit seiner Inszenierung seine eigene aufgestellte Forderung nach der Produktion von eindrücklichen Erlebnissen. Eine Aufführung in der aggressiven und zugleich süßlicher Pollesch-Art mit viel Selbstironie hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck. Und wenn er nebenbei auch noch Lob von Schröder zu erwarten hat, der immer wieder als Gegenmaßnahme zur Arbeitslosigkeit die Verselbstständigung der entlassenen Arbeitnehmer fordert und an die Künstler als leuchtendes Vorbild gemahnt, umso besser.

Pollesch richtet einen wundersamen Wortteig aus Werbesprüchen, Fremdwörtern, Redensarten, Wortneuschöpfungen und Bildungsattributen an. Durch eine Nudelmaschine gedreht ergibt er Endlosteigstreifen, die nach dem Kochen und Anrichten zu schmackhaften Spaghettis gedeihen, von denen einige später schwerer im Magen liegen, als die gut rutschende, phantasievolle, sahnige Dekorationssoße vermuten ließe. Pollesch servierte den Zuschauern wieder einmal beste Erlebnis-Gastronomie.

Birgit Schmalmack vom 5.7.02