Derniers feux, HAU 1
Die Menschen erscheinen hier hilflos, planlos, ziellos, unfähig zur Absprache oder Teamarbeit. Falls man das als Metapher für unsere derzeitige Weltlage lesen soll, dann hat der erst dreißigjährige Choreograph Némo Flouret bei seiner Deutschlandpremiere von „Derniers feux“ wenig Zuversicht mitgebracht, denn die Trompeterin stößt am Schluss erneut ihre Fanfaren in die Luft. Alles könnte wieder von vorne losgehen. Das war ein Eröffnungsstück für das diesjährige Tanz-im-August- Festival, das viele Fragen aufwirft und eigentlich keine beantwortet.

Dambudzo, Alte Münze
Das ist ein Abend, der niemanden kalt lassen kann, denn er geht unter die Haut, er wühlt emotional auf und hinterlässt ein Gefühl der Verunsicherung. Wenn er auch zunächst wie die ersten Videobilder nur eines verspüren lässt: Gedanken an Flucht. Doch wenn man geblieben ist und sich dem Folgenden ausgesetzt hat, wird man feststellen, dass es sich gelohnt hat. Nora chipaumire verbindet die äußert anstrengenden Phasen so geschickt immer wieder mit Zeiten des Wohlfühlens, dass die entsprechenden Fallhöhen bis zum Schluss als Warnung lauern. So hat man hinterher das Gefühl: Man hat etwas verstanden, doch nicht durch einen intellektuellen Weg. Der Erkenntnisprozess ist direkt durch den Körper gegangen und hat die Bauch-, Hüft-, Herz- und sämtliche Gefühlsregionen erreicht. Eine politische, kluge und vereinnahmende Arbeit.

NOT, Berliner Festspiele
Mehr Erlösung gibt es nicht, in einer Welt, in der die Ungerechtigkeit, der Eigennutz und die Gewalt immer mehr die Führung zu übernehmen scheint. Tanz gibt es allerdings bei diesem Stück wenig. Was Freitas hier mit ihrem ausdrucksstarken Ensemble zeigt, ist mehr Bewegungstheater mit klarem politischen Impetus. Das löste beim Berliner Publikum einige Verwunderung, wenig Ablehnung und viel Begeisterung aus.

Bello + Heavy Motors, Circus Festival
Sie präsentieren eine Diversity, die Platz für alle bietet. Sogar für den Erzähler, der sich ebenfalls im pinken Tütü wiederfindet. Die Vielfalt des Lebens, das sich nicht auf eine für alle passende Formel bringen lässt, feiert diese Arbeit. Weder besteht das Leben nur aus wohlmeinender Teamarbeit und verklärender Schönheit, noch aus ständigem Widerstreit und Konkurrenzdruck, weder aus unlösbaren Alltagsproblemen noch aus einer Harmonie, die alles auffängt. Sondern es besteht aus immer neuen unterschiedlichen Begegnungen und Herausforderungen, in denen immer neue Möglichkeiten entdeckt und genutzt werden können. Und das tun die Sieben auf der Bühne in vorbildlicher Art und Weise. Sie stürzen sich beherzt mit großer Lust und Energie in immer neue Abenteuer. Nie ist irgendwas für die nächste Episode geklärt, immer gilt es, für neue Erfahrungen offen zu bleiben.

V_rst_ll_ng, Circus Festival 2025
Ihre Show ist dramaturgisch klug aufgebaut. Sie changiert geschickt zwischen dem Einblick in die Arbeit eines Künstlerpaares, wenn sie über die Entwicklung einer neuen Show berichten, und den Leerstellen, wenn sie selbstgestellte Fragen bewusst unbeantwortet lassen. Kleine Geständnisse schaffen eine persönliche Atmosphäre, um dennoch viel Platz für Überraschungen und Geheimnisse zu lassen. Manches soll man sich eben einfach vorstellen. Dass die kleine Iris den großen Chris bis unter die Decke des Zeltes hebt und der dort Zeitung liest, bleibt der Fantasie der Zuschauenden überlassen. Das schaffen sie in umgekehrter Rollenverteilung. Doch dort Zeitung lesen? Das bleibt dann doch allein der Vorstellung überlassen. So greift an diesem Abend alles wunderbar ineinander und wird zu einer künstlerischen Gesamtv_rst_ll_ng, der nichts mehr fehlt. (Foto: Kai Hebestreit)

Une Partie de Soi + How A Spiral Works + 60% Banan
Die Beiden halten beständig Blickkontakt, denn sie wissen um ihre gegenseitige Abhängigkeit. Ihre Verbindung ist existenziell. Die Musik, die dabei zwischen Choral und Volksmusik changiert, erzeugt eine düstere, mystische Atmosphäre mit einem Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Es ist eine faszinierende Arbeit entstanden, die das Kollektiv „Art for Rain days“ (Izabele Kuzelyte (LT), Alise Bokaldere (LV) and Jason Dupree (UK) hier zusammen kreiert hat. Sie nimmt vom ersten Augenblick gefangen und ihre Spannung lässt bis zum überraschenden Ende nicht nach. Ein bisheriges Highlight des Festivals, das mit seiner dramaturgisch perfekt gestalteten Komposition begeistert, weil das Team ganz dem eigenen Konzept vertraut und völlig auf schnelle Show-Effekte verzichtet.

Woman.Mother.Artist + Memoirs of Mud
Ihre Kunststücke sind eingebettet in eine Inszenierung, die bis ins Kleinste durchgestylt ist. Musik, Setting, Kleidung, Akrobatik und die Texte greifen ineinander. Zwei unschuldig nett aussehende Frauen erzeugen eine Atmosphäre, bei der der Hinterhalt hinter jedem Lächeln wartet. Das zieht in den Bann, beeindruckt in der Konsequenz und schafft Spannung bis zum Ende. Zum Schluss sind beide dreckverschmiert, durchgeschwitzt und ihre Lungen voller Staub. Und die Zuschauer freuen sich über ihre Zugabe ihres Barbie-Song, dessen Inhalt die beiden Künstlerinnen gerade perfekt konterkariert haben.

Circus Festival Berlin 2025
Das ist Kunst, die spektakuläre Artistik mit der Erkenntnis verbindet, was in einer Gemeinschaft, die sich vertraut, gemeinsam erreicht werden kann. Ohne je auf den schnellen Knallmoment zu setzen, sondern ganz der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit zu vertrauen, die keine Showeffekte nötig hat. Sie lassen die in jeder Hinsicht beeindruckenden, mitreißenden Ergebnisse ihrer Höchstleistungen für sich sprechen.(Foto: Roman Chartier)