Platanow


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Allgemeine Ratlosigkeit

Stundenlanges Gerede unter Bäumen wollte er nicht abbilden, meinte Sebastian Hartmann vor der Premiere seiner Inszenierung von Tschechows "Platonow" am Deutschen Schauspielhaus. Daran hält er sich nicht ganz. Im ersten Akt scheint er seinen Ankündigungen zu widersprechen: Langsam plätschert auf der konventionell als Salon bestückten Bühne (Peter Schubert) der small-talk dahin. Die Gutsherrin Anna (Christiane von Poelnitz) und der einstige Rebell und jetzige Dorfschullehrer und Zyniker Platonow (Wolfram Koch) haben ihren Auftritt. Die übrigen Besucher, Verwandten, Geldgeber, Liebhaber, Verführte und Freunde dürfen sich am Geplänkel nach ihren jeweiligen Kräften beteiligen. Wenn die Stimmung daniederliegt, wird die Flasche herumgereicht oder zum Essen gebeten. Einzig der merkwürdige Landstreicher Ossip im Narrenkostüm (Thomas Lawinky) sorgt für unangemessne Störungen der kultivierten, gelangweilten Runde.

Dann öffnet sich der rote Bühnenvorhang mitten im Salon und das eigentliche Theater im romantisch erleuchteten Tannenwald kann beginnen. "All what you see on scene is but a dream within a dream", hatte Hartmann vor Beginn des Spiels ertönen lassen und machte sich jetzt an die Erfüllung. Im Laufe der nächsten Stunden - das Stück dauerte immerhin knapp viereinhalb - versucht er das Spielen mit Realität und Illusion zu immer wieder neuen Höhepunkten zu bringen und so für die notwendigen Aufmerksamkeitkicks bei der langen Sitzung in den (zum Glück neuen) Theatersesseln des DSH zu sorgen. Mit für Tschechow recht ungewöhnlichen Aktionschüben würzt er die allgemeine Ratlosigkeit im Leben der arbeitsscheuen Akademiker auf dem Lande. Platonows Neigung mit seinen rebellischen Reden die Aufmerksamkeit der wenig verwöhnten Damenwelt auf sich zu ziehen und sie durch ein Mischung aus Umschmeichelung und Beleidigung zu verführen und an sich zu binden, hilft ihm dabei aus den Verwicklungen die Möglichkeit zu effektvollen Messerstechereien und Pistolengeknalle zu ziehen.

Den wohl vorbereiteten und lange ersehnten showdown gönnt er sich und seinem Publikum am Ende des vierten Aktes. Die Bühne zeigt alle benutzen Dekorationsteile im völligen Chaos. Die umgestürzten Bäume kommen neben dem sorgsam angezündeten Kandelaber auf dem Salontisch zu liegen. Eine der von Platonow betrogenen Frauen (Cordelia Wege) greift zur Waffe und will den Schuft erschießen. Nach kurzer Regenerationszeit steht dieser jedoch wieder auf und alle anderen richten ebenfalls ihre Waffe auf ihn, um ihr Werk zu vollenden. Doch die Kugeln prallen ab und treffen sie selbst tödlich. Der einzig Überlebende nimmt eine der Pistolen auf und bittet nach einem missglückten Versuch der Selbsttötung schließlich einen der Zuschauer, endlich Schluss zu machen.

Die immer wieder eingestreuten, ironischen Kommentare der Beteiligten ("Hat diese Komödie nicht bald ein Ende?", "Ist das schon der Epilog?") machen stets klar: Alles nur eine weitere Variante im Traumtheater. Mögen die dargestellten Personen ihr erfundenes Schicksal auch für noch so wichtig halten; es ist nur eine Vorläufigkeit in der allseitigen Ratlosigkeit, die sich jeder Moral entledigt hat. An der Rückseite der Bühne wartet schon die noch intakte Salonwand inklusive Bühnenvorhang für das nächste Spiel mit der Beliebigkeit fern ab von jeder Ethik und Ziel.

Birgit Schmalmack vom 19.01.03

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