Lulu


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Unverstellte Begierden

Dr. Schöning (Norman Hacker) will seine Affäre mit "Lulu", die in zweiter Ehe mit dem Künstler Schwarz (Hans Löw) verheiratet ist, entgültig ad acta legen, um seine bevorstehende Verehelichung nicht zu gefährden. Doch wie seine Vorsätze beseitigt Lulu in kurzer Zeit auch seine Kleider. Nackt offenbart er seine Begierde und Lulu genießt ihr Gefühl von Macht über die leicht zu steuernden Männer. Da kehrt der gehörnte Ehemann zurück. Der große, angezogene Hans Löw steht mit fassungsloser, anklagender Miene vor dem kleinen, nackten Nebenbuhler. Der reckt seine Nase selbstbewusst in die Luft und stemmt die Arme männlich Stärke demonstrierend in die Seite. So zeigt die Regie Thalheimers die Männer im Thalia Theater: alle gleichzeitig gesteuert von ihren Trieben und ihren festgelegten Rollen.

Die zartgliederige Fritzi Haberlandt ist Michael Thalheimers Lulu. Sie verweigert sich den herkömmlichen erotischen Männerphantasien und lenkt die Frage darauf, was die Männer wirklich an ihr anzieht und in ihr sehen. Keine Bilder gibt Bühnenbildner Olaf Altmann, der im bewährten Team mit dem Regisseur auftritt, hinzu; in der medienüberfluteten Gegenwart sind sie so reichlich in den Köpfen vorhanden, dass weitere Visualisierung unnötig wird. Die völlig leere Bühne, deren Brandmauern sichtbar bleiben, zeigt nur eine weiße, leere Leinwand. Lediglich schwarze Schattenrisse zeichnen die Bewegungen der Figuren nach. Trotzdem oder gerade deswegen können die Männer, die in nicht abreißender Folge um Lulu anstehen, in ihr das sehen und formen, was sie sich von einer Frau erträumen. Ihre kindliche Unbedarftheit und Verspieltheit beflügeln die Gedanken an Erlangen von Unschuld und Macht. Immer wieder wünscht sich das zerbrechlich wirkende junge Mädchen jemanden, der sie wahrhaftig ansieht und erkennt. Doch die Männer kommen zu ihr, sprechen von Liebe und meinen doch nur das Eine. Sie will reden und die Männer, ob sie nun Medizinalrat (Christoph Bantzer), ein Künstler, ein Doktor, ein Komponist (Felix Knopp), ein Artist (Peter Moltzen) oder ein Kleinganove (Markus Graf) sind, entlarven sich schon in den ersten Minuten. Sie lassen die Hosen herunter und zeigen unbekleidet, wozu sie Lulu benutzen wollen.

Lulu wehrt sich auf ihre kindlich-trotzige Art: Voll Lust am Machtspiel, Sehnsucht nach Anerkennung und Ehrgeiz auf Aufstieg spielt sie die Männer mit meist letalen Folgen gegeneinander aus. Überschneiden sich die Besuchszeiten, kommt es zu Herzstillstand, Selbstmord oder Mord.

Fritzi Haberlandts wenig raumgreifende Gestalt füllt auf spielerische, rein emotionale Weise die Leere. Plappernd und albernd versucht sie sich wie ein kleines Kind die Männer bei Laune zu halten. Fritzi Haberlandt schafft es ihre Willensstärke und unbändige Lebensenergie zu zeigen und doch ihre Einsamkeit und ihren unstillbarer Hunger spürbar zu machen. Im Gegensatz zu den Männern behält sie in ihren kurzen Hemdchen und ihrem (nie abgestreiften) weißen unbefleckten Slip in jeder Lage ihre Würde. Thalheimers Inszenierung zeigt die völlige Leere: keine echten Gefühle, keine wirklichen Beziehungen, keine Ratio, keine Moral, keine Verlässlichkeit, kein Vertrauen - das ist die Welt der Lulu. So wie die Meta-ebene in diesem Schattenreich der Menschen abhanden gekommen zu sein scheint, verweigert Thalheimer sich einer Ästhetisierung oder Überhöhung des Dargestellten. Das mag den begeisterten Beifall für die Darsteller und den weniger euphorischen für das Regieteam erklären.

Birgit Schmalmack vom 2.3.04