Gespenster


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Im Regen stehen gelassen

In Ibsens "Gespenstern" suchen die Sünden der Väter ihre Kinder heim. Die Gespenster der Vergangenheit belasten die heute Lebenden so stark, weil sie sich gegen die Wahrheit und für die Wahrung des konventionellen Illusion entschieden haben. So religiös und psychoanalytisch kann sich der 1882 uraufgeführte Text des Norwegers geben. Der junge Regisseur Patrick Schlösser geht in seiner Inszenierung im Schauspielhaus keiner dieser äußerst unzeitgemäß erscheinenden Deutungen aus dem Weg, sondern steuert sie scheinbar zielgenau an.

Das angesehene Ehepaar Alving hat Zeit ihres Lebens alle ihre Energien darauf verwandt, die moralische Verderbtheit des Ehemannes zu verbergen. Den geliebten Sohn Osvald gab die Mutter aus dem Haus, um ihm die Enttäuschung über die Fehltritte des Vaters zu ersparen. Die waren kaum mehr zu vertuschen, als sich aus dem Verhältnis zwischen Herrn Alving und dem damaligen Hausmädchen Nachwuchs ankündigte. Mit der Umsorgung und Beschäftigung als Hausmädchen versucht Frau Helene bei dem jungen Mädchen Regine wenigstens ein wenig der Schuld ihres Mannes abzutragen. Sohn Osvald kehrt nach vergnüglichen und erfolgreiche Jahren als Pariser Künstler nach Hause zurück, als er von seiner unheilbaren Krankheit der Gehirnparalyse erfährt, die laut Arzt in den Verfehlungen der Vorfahren begründet sein soll.

Im naturalistisch gehaltenen, kahlen Bühnenbild von Thomas Schuster, das Wohnhalle, Kathedrale und Atelier sein könnte, fehlen die Möbel als Indiz des Unbehaustseins. Lediglich zwei kaum benutzte Stühle und ein Sessel stehen an den Rändern der dunkel getäfelten Halle vor dem regenverhangenen Fjordpanorama. So stehen die Schauspieler auch bei Gefühlsbehauptungen weit voneinander entfernt als Symbole ihrer grenzenlosen Einsamkeit. Schlösser lässt sie ihre Enthüllungen, Bekenntnisse, Vorwürfe, Wünsche und Ansichten wie Gespenster aufsagen. Der Pastor Manders (Michael Abenroth) steht für die starre christliche Moral, wenn er seine moralisierenden Reden wie vor 20 Jahren, als er Frau Alving zur Pflichterfüllung in ihrer unglücklichen Ehe ermahnte, herunterbetet. Er lässt sich auf sein Gegenüber nur ein, wenn es zu seinem persönlichen Fortkommen dient. Das Hausmädchen und illegitime Tochter des Hausherrn Regine (Maja Schöne) steht für die leichtsinnige Lebensfreude, die sie mit einigem sektperlendem Gekichere verbreiten darf. Als sie erfährt, dass sie das anvisierte Glück mit dem jungen, vielversprechenden Künstler und reichen, zurückgekehrten Sohn Osvald (Marek Harloff) in Paris wohl nichts werden wird, weiß sie schnell mit einem berechnendem Lachen ihr Leben neu zu kalkulieren.

Frau Helene Alving (Ilse Ritter) ist eine stets lächelnde Puppe. Zu sehr hat sie Zeit ihres Lebens die treue Pflichterfüllerin gespielt, als dass ihre Selbstfindungsphase in der zweiten Lebenshälfte noch die rechte Wirkung zu finden scheint. Sie ist das Produkt ihrer unwahrhaftigen Lebensführung, die sich den überkommenen Konventionen unwissend unterworfen hat. Ihr Sohn Osvald, der die schreckliche Krankheit der Gehirnparalyse von seinem trunksüchtigen Vater geerbt hat, zeigt zwar in einigen Anläufen zum Erklimmen der steilen Treppe noch ein wenig mehr Energie, aber die einschläfernde Wirkung der einsamen, depressiv-regnerischen, norwegischen Unaufrichtigkeit greift auch auf ihn über. Da mag ihm seine Mutter mittlerweile mit ihren tiefenpsychologischen Entlastungsversuchen ihm auch noch so gut zureden. Zu wenig Überzeugungskraft können ihre lauen Angebote, an die sie selbst nicht glauben kann, mit der künstlich klingenden Stimme entfalten.

Schlösser wollte dem Text in aller Ernsthaftigkeit nachgehen und geht dabei das Risiko ein, die Schauspieler in ihrer Symbolhaftigkeit zeitweise erstarren zu lassen. So wirken ihre Darstellungsversuche zum Teil fast unprofessionell und wenig überzeugend; sie dürfen als Verkörperung von Gespenstern zu wenig Gefühl und Lebendigkeit zeigen, um ihr Leiden über den spitz zulaufenden Bühnenrand zu transportieren. Da mag sich ein Harloff auch noch so beeindruckend bemühen, seinen beginnenden Wahnsinn zum Ausdruck zu verleihen. Neben der monotonen Divenhaftigkeit der Ilse Ritter, die ihre Erstarrung sehr überzeugend darzustellen vermag und in dieser Rolle noch mehr als sonst die Meinung des Publikums zu spalten weiß, prallt jedes Gefühl ab. Schlösser beschränkt sich ganz auf die realistische Darstellung. Auf Musik, Bewegungen oder Bilder zum besseren Einfühlen verzichtet er. Er vertraut völlig auf die etwas überholte Symbolkraft der Worte Ibsens. So werden die Schauspieler mit ihren zum Teil sehr pathetischen Texten auf der weiten, leeren Bühne allein im Regen stehen gelassen und bewusst als künstliche Symbole benutzt. Das ist zwar in der logischen Konsequenz eindrucksvoll aber bleibt gespenstisch blutleer.

Birgit Schmalmack vom 10.03.03